Viele Wirecard-Kleinanleger hoffen auf eine schnelle Entscheidung im Münchner Musterverfahren. Mit Blick auf die früheren Anlegerprozesse ist das jedoch nicht zu erwarten. Einmal mehr zeigt sich: Kollektiver Rechtsschutz hat es in Deutschland schwer.
In der Justiz sind sie das Symbol für den Wirecard-Skandal: Terminzettel für die Klagen von Kleinanlegern des einstigen DAX-Konzerns aus Aschheim bei München, der nach Luftbuchungen in Milliardenhöhe im Jahr 2020 Insolvenz anmelden musste. Bisweilen Tausende solcher Ankündigungen dürften in den Gerichtsfluren ausgehangen haben. Dass es in einem Schadensfall zu einer solchen Konzentration an Forderungen vor den Zivilgerichten kommt, hat auch mit dem Insolvenzrecht zu tun. Mindestens 20 Milliarden Euro an Forderungen haben Wirecard-Gläubiger beim Insolvenzverwalter, dem Münchner Rechtsanwalt Michael Jaffé, angemeldet. Jaffé wiederum hat nicht nur erfolgreich Dividendenzahlungen von Kleinanlegern zurückgefordert, sondern ihnen auch deutlich gemacht, dass sie im Insolvenzverfahren nur nachrangige Gläubiger sind.
Wirecard-Aktionäre mussten also die Einbußen ihrer Wertpapiere bis hin zum Totalverlust selbst vor Gericht einklagen. Doch gegen wen? Auf Beklagtenseite stehen naturgemäß die handelnden Personen zur Auswahl: der frühere Konzernchef Markus Braun, der Chefbuchhalter Stephan von Erffa sowie Oliver Bellenhaus, einst Generalbevollmächtigter für das Asiengeschäft von Wirecard. Alle drei stehen im mittlerweile dritten Jahr vor einem Münchner Strafgericht und könnten mit ihren noch verbliebenen Privatvermögen kaum Forderungen im Milliardenbereich erfüllen. Anders sieht es hingegen mit dem deutschen Ableger der globalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY) aus, die Wirecard über die Jahre mutmaßlich gefälschte Bilanzen attestiert hatte. Das Unternehmen verfügt über eine signifikante Haftungsmasse sowie eine Berufshaftpflicht, die für fahrlässige Fehler der Abschlussprüfer aufkommen müsste. Daher konzentrieren sich die Anlegerklagen in den Eingangsinstanzen vor allem in Stuttgart, dem Stammsitz von EY Deutschland, sowie in München. Insbesondere an der Isar sind nach Schätzungen an den Geschäftsstellen der Zivilkammern mehrere Zehntausende Schriftsätze eingegangen – eine enorme Belastung, häufig parallel zu den noch anhängigen Dieselklagen gegen Automobilhersteller.
Entlastung für die Zivilgerichte sollte ein Klageinstrument bringen, das vom Gesetzgeber vor nahezu 20 Jahren ins Leben gerufen wurde: das sogenannte Kapitalanleger-Musterverfahren (KapMuG), unter Juristen gerne auch als „Lex Telekom“ bezeichnet. Bei diesem Verfahren bestimmt das Gericht einen Musterkläger, dem sich weitere Kapitalanleger mit ihren Forderungen gegen eine Musterbeklagte anschließen können. Sodann werden einzelne Feststellungsziele formuliert, die gerichtlich überprüft werden. Am Ende steht ein Musterentscheid mit rechtlicher Bindung der Feststellungen für alle teilnehmenden Parteien – damit sind „Nachrücker“ im Laufe des Musterverfahrens ausgeschlossen. Bis zur Entscheidung im Musterverfahren sind die anhängigen Leistungsklagen an den Gerichten ausgesetzt. Mit dieser Struktur, die Jahre später in der Form der Musterfeststellungsklage weiterentwickelt wurde, wollte man komplexe, inhaltlich vergleichbare Anlegerstreitigkeiten schlank halten und zugleich rasch zu Entscheidungen kommen.
Gleich das erste KapMuG-Verfahren im Jahr 2007 zeigte den Zivilgerichten aber deutlich die Schwächen des Instruments auf. In ganz Deutschland hatten rund 16.000 Kleinanleger die Deutsche Telekom wegen angeblicher Prospektfehler beim Börsengang DT3 um die Jahrtausendwende verklagt. Weil man im Musterverfahren zahlreiche Anleger erwartete, mietete das Oberlandesgericht Frankfurt langfristig den Saalbau im Stadtteil Bornheim an; doch schon bald saßen dort nur noch der KapMuG-Spezialsenat, die Anwälte der Telekom sowie die Klägeranwälte. Auf die Rechtssicherheit mussten beide Seiten fast anderthalb Jahrzehnte warten. Nachdem sich der Bundesgerichtshof zwei Mal mit dem Rechtsstreit befasst hatte, einigten sich die Parteien erst im Spätherbst 2021 auf die Zahlung einer Entschädigung in dreistelliger Millionenhöhe – viele der ursprünglichen Aktionäre sowie der Musterkläger lebten da bereits nicht mehr.
Ein Kritikpunkt an den Verfahren nach dem KapMuG ist trotz der zwischenzeitlichen Novellierung des Gesetzes neben der langen Verfahrensdauer, dass jeder Fall in seiner Eingangsinstanz nach einem Musterentscheid bearbeitet werden muss. Sei es, um den konkreten Schaden zu berechnen oder eine Kostenentscheidung zu treffen. Zur Beschleunigung des kollektiven Rechtsschutzes hat das Bayerische Oberste Landesgericht im Wirecard-Musterverfahren aus rund 1800 anhängigen Klagen einen Musterkläger ausgewählt. Ihm haben sich zahlreiche Anleger angeschlossen. Nach Angaben des Gerichts steht die Musterklage stellvertretend für 8500 ruhende Anlegerklagen mit einem Forderungsvolumen in Höhe von 750 Millionen Euro.
Bevor das Verfahren im vergangenen November starten konnte, hatte die Münchner Justiz nicht nur mit der Logistik zu kämpfen. Um ihre Chancen auf Schadenersatz gegen EY zu erhöhen, hatten der Musterkläger und weitere Beigeladene eine Abtrennung des Verfahrens gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft gefordert. Doch das Bayerische Oberste Landesgericht sperrte sich. Ihren Beschluss begründeten die Richter damit, dass im Fall der Trennung zwei parallele Musterverfahren mit teilweise identischen Feststellungszielen entstünden, was der gesetzlichen Konzeption einer Bündelung aller Feststellungsziele in einem Verfahren widerspreche.
Zum Auftakt in einer Messehalle in München-Riem riet die Vorsitzende Richterin Andrea Schmidt den Parteien noch einmal zu einer gütlichen Einigung. Zugleich wies sie auf das Prozessrisiko hin, bei dem hohen Streitwert kein leicht zu vernachlässigender Hinweis. Die Vertreter des Musterklägers drängten weiter auf Zeit. Sie stellten den Antrag, das Wirecard-Musterverfahren an einen Senat am Oberlandesgericht München zu verweisen. Aus ihrer Sicht ist das gesetzlich zuständige Bayerische Oberste Landesgericht mit einem Verfahren dieser Größe überfordert. Außerdem versprechen sie sich von dem Wechsel eine erhebliche Abkürzung des Rechtsstreits, der Ende Februar fortgesetzt wird. „Wir könnten dort schon nach zwei Jahren durch sein“, sagte Elmar Vitt, der Rechtsanwalt des Musterklägers, jüngst in einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Bestätigt dürften sich die Antragsteller jedenfalls darin sehen, dass aus der Justiz während der Vorbereitung des Musterverfahrens mehrfach auf die knappen Ressourcen am Bayerischen Obersten Landesgericht hingewiesen wurde. Den Beweis einer effizienten Verfahrensführung müsste das Oberlandesgericht München allerdings erst noch antreten: Auch dort wurde das 2010 eingeleitete Verfahren in Sachen Hypo Real Estate erst durch Vergleiche in den Jahren 2022 und 2024 beendet.