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Zwischen Abschreckung und Abgrund

Ein Präventivschlag gegen iranische Nuklearanlagen, eine beispiellose Raketenwelle über Tel Aviv, Haifa und Jerusalem und nun ein fragiler Waffenstillstand. Israels Angriff auf den Iran markiert einen strategischen Wendepunkt, doch die politische und gesellschaftliche Lage bleibt angespannt. Was treibt die israelische Regierung an und wie tief sitzt die Verunsicherung im Land? 

Der Schlag kam bei Nacht. Über 200 israelische Kampfjets stiegen auf, um Dutzende Ziele tief im iranischen Territorium zu treffen, unter ihnen nukleare Anlagen, Kommandozentralen, strategische Infrastruktur. Die Operation war kein symbolischer Akt, sondern ein kalkulierter Versuch, die atomaren Ambitionen Teherans entscheidend zu schwächen. Premierminister Benjamin Netanjahu sprach von einem „Akt der Notwehr im letzten Moment“, einer Operation zur Verhinderung einer Atombombe in den Händen des Regimes in Teheran. Die Entscheidung zum Präventivschlag wurde laut Berichten im engsten Kreis getroffen. Gleichzeitig wurden über diplomatische Kanäle die Vereinigten Staaten informiert. Während Premierminister Netanjahu den militärischen Erfolg hervorhebt, fordert die Zivilgesellschaft mehr Transparenz, klare Strategien und politische Rechenschaft. Im Landesinneren herrschten fast zwei Wochen lang Luftalarm und Raketenbeschuss, doch die Menschen blieben entschlossen. Sie zeigten jene Mischung aus Pragmatismus und Fatalismus, die das Land seit Jahrzehnten durch Krisen trägt. Die Unterstützung für die Militäroperation ist groß: Laut Umfragen halten
80 Prozent der jüdischen Israelis die Offensive für notwendig. Die Protestbewegung für ein Geiselabkommen mit der Terrororganisation Hamas, die monatelang die Straßen Tel Avivs füllte, ist nahezu verstummt. 

Hamas und Hisbollah erheblich geschwächt

Selbst erbitterte politische Gegner stehen geschlossen zusammen. Der liberale Oppositionsführer Jair Lapid stellte sich demonstrativ hinter die israelischen Streitkräfte. Verteidigung ist in Israel keine Frage der Parteipolitik, sondern nationale Pflicht. Die Innenpolitik ruht vorerst. Kurz vor Kriegsbeginn sah die Lage noch anders aus. Die Opposition forderte im Parlament die Auflösung der Knesset. Die Regierungsmehrheit lehnte ab, doch einige Abgeordnete der ultraorthodoxen Koalitionsparteien stimmten zu. Sie sind verärgert, weil Netanjahu sein Versprechen brach, ein Gesetz zur dauerhaften Befreiung ultraorthodoxer Religionsstudenten vom Wehrdienst durchzusetzen. Die Koalition wollte das Wehrdienstgesetz rasch regeln, doch nun ruhen die Konflikte. Das spielt der Regierung in die Hände, deren Zustimmungswerte durch Angriffe auf die Gewaltenteilung und den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 stark gesunken waren.

Netanjahu und seiner Partei kommt diese Atempause zugute, und er nutzt sie entschlossen: Seit Jahrzehnten warnt er vor einem nuklear bewaffneten Iran, zögerte aber mehrfach, den Iran direkt zu attackieren. Nachdem Israel die iranischen Stellvertreterorganisationen wie Hisbollah und Hamas erheblich geschwächt und der iranischen Luftverteidigung schwere Schläge versetzt hatte, sah Israel die Gelegenheit für einen Angriff gekommen. Netanjahu inszeniert sich nun als derjenige, der rechtzeitig gehandelt hat. Der Name der Operation Am Kalavi, Aufstrebender Löwe, passt zum gewünschten Narrativ: Mut, Stärke, Entschlossenheit. Die Botschaft ist klar: Israels Sicherheit steht über allem.

Auch international profitiert Netanjahu, zumindest kurzfristig. Europäische Partner und die Golfstaaten mögen den israelischen Angriff nicht gutheißen, doch sie teilen das grundlegende Misstrauen gegenüber dem iranischen Atomprogramm. Israel präsentiert sich als letzte Verteidigungslinie gegen einen potenziellen atomaren Durchbruch Teherans. Das verschafft dem Premier eine strategische Ausgangsposition als unverzichtbarer Akteur in einem sicherheitspolitischen Schachspiel, bei dem andere lieber zögern als handeln.

Doch der Preis ist hoch, und der Erfolg bleibt trotz der Waffenruhe ungewiss. Die meisten Israelis wünschen sich ein Ende des Krieges und unterstützen den Waffenstillstand, doch viele zweifeln, ob er Bestand hat. Zudem sehen ihn viele eher als Verdienst der USA denn als Netanjahus. Netanjahu gilt nicht als Anführer, sondern als Mitläufer. Dass die USA für entscheidende Aktionen wie die Bombardierung der Fordo-Atomanlage unverzichtbar waren und US-Präsident Donald Trump den Waffenstillstand verkündete, verstärkt diesen Eindruck. In der israelischen Zivilgesellschaft wächst die Sorge über das Fehlen einer langfristigen Strategie, besonders nach den Erfahrungen des Gaza-Kriegs.

Viele glauben, dass militärisches Handeln politische Konzepte nicht ersetzen kann. Die Notwendigkeit zur Selbstverteidigung wird kaum bestritten, wohl aber die strategische Logik, die Ziele und die Kommunikation des militärischen Vorgehens. In sozialen Netzwerken, Leitartikeln und zivilgesellschaftlichen Initiativen zeigt sich eine wachsende Ambivalenz.

Das Fehlen einer klaren Strategie wird nicht nur als sicherheitspolitisches Problem gesehen, sondern als Zeichen einer tiefergehenden politischen Entfremdung. Netanjahus Verteidiger erklären die Zurückhaltung mit strategischem Kalkül: Israel halte bewusst offen, wie es weiter vorgeht, um die Feinde zu verunsichern und sich selbst Spielraum zu bewahren. Doch was außen wie taktische Klugheit wirkt, erscheint innen zunehmend als Führungsschwäche und mangelnde Rechenschaft. In einer ohnehin gespaltenen Gesellschaft verstärkt diese Wahrnehmung die Polarisierung zwischen dem sicherheitspolitischen Machtanspruch und dem zivilgesellschaftlichen Ruf nach Verantwortung.

Gelingt es Netanjahu, den Eindruck zu erwecken, die Militäroperation gegen den Iran sei verhältnismäßig, strategisch klug und erfolgreich gewesen, könnte er politisch profitieren, vor allem im Hinblick auf mögliche Neuwahlen. Der ausgehandelte Waffenstillstand bietet ihm die Chance, sich als entschlossener und besonnener Staatsmann zu präsentieren. Doch die Lage bleibt fragil: Sollte der strategische Nutzen des Konflikts ausbleiben oder der Waffenstillstand scheitern, droht neue Kritik, auch aus der politischen Mitte. Netanjahu hat den Konflikt erneut zur Bühne seiner Politik gemacht. Ob er ihn zurück an die Spitze bringt oder ins Abseits drängt, hängt weniger vom militärischen Erfolg als von der öffentlichen Wahrnehmung ab.

Kristof Kleemann

leitet seit September 2023 das Jerusalemer Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.