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Bremer Hilferuf nach Rechtsstaatspakt

Die Neuauflage des Pakts für den Rechtsstaat sollte nach dem Willen der Justizminister und -senatoren der Länder auf der Ministerpräsidentenkonferenz Anfang Dezember beschlossen werden. Die Entscheidung wurde verschoben, weil manche Finanzministerien Bedenken anmeldeten. Offenbar ist die Bedeutung des Pakts für ein funktionierendes Staatswesen noch nicht überall präsent.

Der neue Pakt für den Rechtsstaat sollte der Justiz 2000 neue Stellen für Richter und Staatsanwälte bis zum Jahr 2028 sichern. Der Bund sollte dabei eine Anschubfinanzierung leisten, die Länder später diese Stellen selbst finanzieren. Die Justiz steht vor großen Herausforderungen. Die Einführung der elektronischen Akte stellt für sich schon eine Aufgabe dar, die in der Strafjustiz neben der eigentlichen Kernaufgabe, der Ermittlungsarbeit und Rechtsprechung, personelle Ressourcen fordert und bindet. Zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt trifft die Justiz dabei eine regelrechte Flut neuer Ermittlungsverfahren und dazu muss sie sich noch den Auswirkungen von Fachkräftemangel und sinkenden Bewerberzahlen stellen – vor allem bei den Servicekräften. Das kleinste Bundesland Bremen wird hiervon nicht verschont. Lagen im Jahresmittel die Eingangszahlen bei der Staatsanwaltschaft bislang im Bereich zwischen 59.000 und 65.000 (Staats- und Amtsanwaltschaft), stieg diese Zahl im Jahr 2023 auf 72.000 und im darauffolgenden Jahr auf fast 80.000. 2025 werden etwa 75.000 neue Verfahren registriert werden, zuzüglich noch nicht erfasster Verfahren im vierstelligen Bereich. Ob es sich dabei „nur“ um eine Welle oder den neuen Normalzustand handelt, bleibt abzuwarten. Ein Rückgang ist jedenfalls aktuell nicht erkennbar und zu erwarten. Personell nachgesteuert wurde und wird nur unzureichend. Lag der Deckungsgrad bei der Staatsanwaltschaft nach dem Personalbedarfsbemessungssystem (Pebb§y) im Jahr 2018 noch bei niedrigen 83 Prozent, sank dieser Wert bis ins Jahr 2024 auf nur noch 68,5 Prozent. Die fast logische Folge dieser auch im Vergleich zu anderen Bundesländern bestehenden krassen Unterausstattung ist ein Anstieg der Bestände: von rund 10.000 im Jahr 2021 auf rund 17.000 im Jahr 2025. Die Ursache für diese Misere liegt eigentlich auf der Hand. Eines kann dabei ausgeschlossen werden: mangelnder Arbeitseifer oder gar mangelndes Verantwortungsbewusstsein der Bediensteten. Denn die Zahl der Erledigungen stieg von 65.000 im Jahr 2021 auf 77.000 im Jahr 2024.

Auch bundesweit ist die Anzahl der Ermittlungsverfahren nach den veröffentlichten Zahlen des Statistischen Bundesamtes erheblich gestiegen, und zwar von 4,9 Millionen im Jahr 2021 auf 5,5 Millionen im Jahr 2024. Im gleichen Zeitraum stieg der Bestand der laufenden Ermittlungsverfahren von 740.000 auf 950.000. Aber nicht nur Richter und Staatsanwälte fehlen in Bremen und den anderen Bundesländern. Auch im Servicebereich, also in den Geschäftsstellen, hat sich ein großes Loch aufgetan. In Bremen etwa fehlen allein beim Amtsgericht 30 Servicekräfte, bei der Staatsanwaltschaft sind es noch 20 und in Summe bei sämtlichen Bremer Dienststellen etwa 80. Dieser Bereich darf bei der Besetzung offener Stellen nicht unberücksichtigt bleiben.

Stress, Resignation und Frust

Die Politik in Bremen hat die Justiz neben der Polizei, dem Bildungsbereich und der Finanzverwaltung zwar von Einsparungen ausgenommen, im geringen Umfang neue Stellen bewilligt und befristet bewilligte Stellen entfristet. Diese wichtigen Maßnahmen sind anzuerkennen. Sie genügen aber bei Weitem nicht, um den gesetzlichen Aufgaben sachgerecht nachkommen zu können. Die Folgen der ohnehin schon chronischen personellen Unterausstattung der Gerichte und aktuell insbesondere der Staatsanwaltschaften lassen sich aber nicht nur, wie geschehen, zahlenmäßig darstellen und aufbereiten. Sie sind auch ganz praktisch zu spüren: Bei der Stimmung der Kollegen aller Berufsgruppen zwischen Stress, Resignation und Frust. Bei der Nachwuchsgewinnung: Es spricht sich herum, wenn die Arbeitsbedingungen schlecht sind. Niemand ist so naiv und stellt sich vor, der Arbeitsalltag sei vergleichbar mit den Darstellungen im ARD-Tatort. Wer Richter oder Staatsanwalt werden will, muss bereit und in der Lage sein, viel und zügig zu arbeiten. Aber wenn der Normalzustand ist, die Arbeit von anderthalb viel und zügig arbeitenden Kollegen zu erledigen, und ein echtes Gegensteuern nicht absehbar ist, dann entscheidet sich der Absolvent nicht nur vielleicht für einen anderen Arbeitgeber. In der tatsächlichen Sachbearbeitung, wenn für Aktenstudium und Koordinierung von Ermittlungen schlicht die Zeit fehlt: Und nicht zuletzt bei der Verfahrenslaufzeit, wenn Beschuldigte, Angeklagte, Zeugen und alle die, die sich mit ihren Anliegen an die Justiz wenden (müssen), das Gefühl bekommen, der Staat sei überfordert und nicht in der Lage, seine Aufgaben so zu erfüllen, wie man es in einem der wohlhabendsten Länder der Erde erwarten darf.

Mag das Hadern mit dem Staat noch zu verschmerzen sein, wenn daraus aber ein Hadern mit dem Rechtsstaat wird, sollte spätestens dann jedem Entscheidungsträger klar werden, dass es sich lohnt, in die Justiz zu investieren. Die für eine Normalausstattung der Justiz in Bremen notwendige Summe von 11,4 Millionen Euro ist überschaubar. Und auch in den übrigen Bundesländern liegt der Anteil der Justiz am Gesamthaushalt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bei unter 4 Prozent, wobei wiederum Bremen hier mit 2,4 Prozent unrühmlich hinten liegt. Die angemessene Ausstattung der Justiz ist jedenfalls möglich, wenn man sie denn will und wenn der Haushaltsgesetzgeber entsprechende Prioritäten setzt.

Der Zustand der kränkelnden Justiz ist auch der Anwaltschaft nicht verborgen geblieben. In Bremen hat die Hanseatische Rechtsanwaltskammer einen Brandbrief an den Bürgermeister und Präsidenten des Senats verfasst. Die Rechtsanwälte verstünden sich „als Seismografen, die allzu oft und hautnah die Verständnislosigkeit, den Unmut und teils auch die Verzweiflung der Betroffenen“ erführen. In einem gemeinsamen offenen Brief haben der Bremische Richterbund, die Hanseatische Rechtsanwaltskammer Bremen und der Bremische Anwaltsverein an den Bürgermeister und den Senator für Finanzen sodann ihre geteilte Sorge über den Zustand der Justiz öffentlich zum Ausdruck gebracht und für die Verabschiedung des Pakts für den Rechtsstaat geworben. Diese Zustandsbeschreibungen eines notleidenden Teils des Staatswesens haben aber ebenso wenig wie vorherige öffentliche und nicht öffentliche Hinweise auf die personellen Defizite und sogar eine Vereinbarung im Koalitionsvertrag („Die Koalition wird zum Ende der Legislaturperiode eine Deckungsquote von „PEBB§Y 100“ anstreben“) dazu geführt, dass – abgesehen von den lobenswerten zuvor erwähnten Maßnahmen – die Normal(!)ausstattung der Justiz ernsthaft angegangen wird.

Wenn die Bundesländer diese Ausstattung – nochmal: finanziell ist sie möglich und kein Luftschloss – nicht aus eigener Initiative und Kraft angehen, dann sollten sie das Geschenk des Bundes nicht liegen lassen. Der Bürger, als Rechtsuchender und Wähler, wird es ihnen danken.

Benjamin Bünemann

ist Vorsitzender des Bremischen Richterbundes und Vizepräsident des Amtsgerichts Bremerhaven.