Catcalling klingt harmlos, ist es aber nicht. Es geht in Wahrheit um nichts anderes als sexuelle Belästigung, nur eben „nicht-körperliche“. Gemeint ist das Hinterherrufen, Pfeifen oder sexuell anzügliche Kommentieren fremder Menschen. Verbale Belästigungen mit sexualitätsbezogenem Inhalt durch fremde Männer, meist im öffentlichen Raum, gehören in Deutschland zu den Erfahrungen vieler, vor allem junger Frauen, und das mit zum Teil erschreckender Regelmäßigkeit.
Dennoch ist dieses Verhalten in Deutschland bislang häufig straflos. Nach § 184i StGB ist sexuelle Belästigung nur strafbar, wenn sie „durch eine körperliche Berührung“ erfolgt. Der Tatbestand der Beleidigung gemäß § 185 StGB erfasst ein solches Verhalten in der Regel ebenfalls nicht, wie der Bundesgerichtshof in einer jüngeren Entscheidung dargelegt hat. Selbst derbste sexistische Äußerungen gegenüber Frauen seien nicht unbedingt als Beleidigungen zu würdigen, wenn neben kurzen, sexuell motivierten Äußerungen keine weiteren besonderen Tatumstände vorlägen, die auf eine gewollte herabsetzende Bewertung schließen ließen. Für Betroffene kaum zu glauben und unerträglich: Das Strafrecht kennt keine eigenständige Norm, die verbale sexuelle Belästigungen ohne körperliche Berührung erfasst. Das muss sich ändern und dafür gibt es gute Gründe. Catcalling ist keine harmlose Form einer Kontaktaufnahme. Es ist eine Form der Machtausübung, die meist Frauen zu bloßen Objekten sexueller Bewertung degradiert. Es verletzt die Würde und Selbstbestimmung derjenigen, die sich plötzlich und ungewollt sexualisierten und erniedrigenden Bewertungen ausgesetzt sehen. Betroffene berichten von Angst, Ekel oder Scham – genau wie bei anderen Formen sexueller Belästigung. Das subjektive Sicherheitsgefühl wird erheblich beeinträchtigt. Bei einer Online-Befragung erhob das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen im Jahr 2021 während eines Zeitraums von gerade einmal fünf Wochen Daten zu fast 4000 Fällen der verbalen sexuellen Belästigung. 96 Prozent der Betroffenen waren weiblich, die Mehrzahl war unter 19 Jahre alt. Insbesondere junge Mädchen fühlten sich durch entsprechende Vorfälle zum Sexualobjekt reduziert und erniedrigt. Meist waren die Opfer bei der Tat allein, anschließend verunsichert und mieden in der Folgezeit bestimmte Orte oder Routen. Catcalling schränkt sie damit in der Ausübung ihrer persönlichen Freiheit ganz erheblich ein.
Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts kann nicht auf die selbstbestimmte Vornahme sexualbezogener Handlungen mit oder an dem eigenen Körper beschränkt werden. Denn es bezweckt auch den Schutz vor der nicht-körperlichen sexuellen Verobjektivierung einer Person. Gerade im Bereich des Sexualstrafrechts wird die strafrechtskritische Fahne immer besonders hochgehalten und oft von einer „Übermoralisierung“ des Strafrechts gesprochen. Auch im Anschluss an die letzte Justizministerkonferenz war wieder davon die Rede, das Strafrecht sei keine „Super-Moral-Instanz“. Das ist in den Fällen des Catcallings und anderer sexuell übergriffiger Verhaltensweisen wie etwa das Anfertigen heimlicher Voyeur-aufnahmen schlicht Unfug. Es geht nicht um Moral, es geht um sexuelle Selbstbestimmung. Ein gesetzlicher Straftatbestand, der dieses Recht ausreichend schützen würde, fehlt bis heute. Darum wird Nordrhein-Westfalen auch in Zukunft konsequent für eine Reform des Sexualstrafrechts eintreten.
In der Diskussion über die Strafbarkeit von Catcalling sind sowohl die rechtlichen als auch die gesellschaftlichen Implikationen einer solchen Maßnahme sorgfältig zu hinterfragen. Eine strafrechtliche Verfolgung dieses Verhaltens würde in der Praxis mehr Probleme schaffen als lösen.
Da derzeit kein konkreter Gesetzentwurf für einen Straftatbestand des Catcallings vorliegt, gestaltet sich die Debatte bislang recht abstrakt. Bereits jetzt erfassen existierende Straftatbestände wie sexuelle Belästigung (§ 184i StGB) oder Beleidigung (§ 185 StGB) viele kritische Situationen. Sollen darüber hinaus lediglich schwerwiegende Formen sexueller Belästigung, wie etwa anstößige oder entwürdigende Bemerkungen, unter Strafe gestellt werden? Oder soll jedes verbale Verhalten, das als unangemessen empfunden wird, strafbar werden?
Hier besteht das Risiko einer Überkriminalisierung sozial unangemessener, aber letztlich nicht strafwürdiger Verhaltensweisen, zumal der Begriff Catcalling unscharf gefasst ist. Was einer Person als erhebliche Belästigung erscheint, wird von einer anderen möglicherweise als lediglich unangenehmer und überflüssiger Kommentar wahrgenommen. Eine präzise Definition ist kaum möglich, ohne beträchtliche Grauzonen zu schaffen. Hierbei ist das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot zu beachten, dem zufolge für den Bürger klar erkennbar sein muss, welche Verhaltensweise strafbar ist und welche nicht. Ein vager Straftatbestand, der potenziell auch alltägliches Verhalten umfasst, verheißt dagegen alles andere als Klarheit. Je nach Ausgestaltung des Straftatbestands ließe sich beispielsweise eine unbedachte Bemerkung oder Geste in einer konkreten Situation als potenzielle Straftat werten. Dies birgt die Gefahr einer massiven Ausweitung staatlicher Eingriffsbefugnisse in private Kommunikationssituationen. Statt die Strafbarkeit für verbale Belästigungen weiter auszuweiten, sollten wir präventive Maßnahmen stärken, die das Bewusstsein für respektvolles Verhalten im öffentlichen Raum schärfen. Die Politik ist gut beraten, nicht in den inflationären Ruf nach strafrechtlicher Verfolgung von Catcalling einzustimmen. Denn damit werden Erwartungshaltungen in der Bevölkerung geschürt, die sich später nicht erfüllen lassen. Der Beweis für eine verbale Belästigung ist oft schwierig zu erbringen. Aussagen und Gesten in öffentlichen Räumen sind häufig nicht dokumentiert, und Täter bleiben anonym. Unterbleibt eine Anzeige unter diesen Vorzeichen, ist mit einer hohen Dunkelziffer zu rechnen. Die damit einhergehende Rechtsunsicherheit könnte die Glaubwürdigkeit des Strafrechts insgesamt schwächen.
Darüber hinaus ist eine zusätzliche Belastung der Strafverfolgungsbehörden zu befürchten, die wir uns angesichts der hohen Zahl offener Ermittlungsverfahren nicht leisten können. Wir sollten die entsprechenden Prioritäten setzen und unsere Ressourcen so verwenden, dass sie der Gesellschaft am meisten nutzen – nämlich bei der Verfolgung schwerwiegender Delikte wie Gewaltverbrechen, schwerer Wirtschaftskriminalität oder organisierter Kriminalität.
Das Strafrecht dient als Ultima Ratio der Bestrafung schwerwiegender Normverletzungen. Es ist kein Instrument der Erziehung oder Sensibilisierung, mit dem sich pauschal auf unerwünschtes Verhalten und kulturelle Praxis einwirken lässt, so fragwürdig diese in den betreffenden Fällen auch sein mögen.