Türkischer Richter im Exil berichtet

Die 1990er-Jahre waren in der Türkei eine Zeit der Unruhen, geprägt von Korruption, Polarisierung und weitverbreiteter Ungerechtigkeit. Ich bin Zeuge der Unterdrückung der Kurden und der beunruhigenden Gleichgültigkeit gegenüber ihrem tiefen Leid geworden. Dieses Gefühl, Ungerechtigkeit zu bekämpfen, hat mich dazu bewogen, als Richter für die Gerechtigkeit einzutreten. Nach den 2000er-Jahren ist die Justiz zunehmend unter den populistischen Einfluss der Exekutive geraten. Getrieben von Machtstreben, Einfluss und finanziellem Gewinn haben viele Justizmitglieder die Augen vor dem Verfall der Institutionen verschlossen. Um ihre Loyalität zu sichern, haben sie verdeckte Vorteile – wie erstklassige Grundstücke, Häuser, Autos und Bankkredite – erhalten, heimlich und zu einem Bruchteil ihres wahren Werts. Nicht ahnend, dass sie manipuliert worden sind, um künftige Umstrukturierungen zu vollstrecken, haben die meisten diese Angebote bereitwillig angenommen und sind in gut orchestrierte, mafiaähnliche Fallen getappt. Bis 2013 war der Weg für die neu gegründete „Plattform Einheit in der Justiz“ bereitet – eine regierungsnahe Berufsorganisation, die 2014 die Wahlen zum Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte gewonnen hat. Diese Plattform ist zum gehorsamen Vollstrecker der Erdogan-Doktrin von der „Unterwerfung oder Vernichtung“ geworden. Die systematische Gesetzlosigkeit, Unterdrückung und der Abbau staatlicher Institutionen in der Türkei können nicht allein Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan und seinem engen Kreis angelastet werden – ein erheblicher Teil der Verantwortung liegt auch bei der Justiz selbst, die in Teilen nicht widerstehen konnte und der Staatsführung zu Diensten war.

Die wahre Stärke eines Staates liegt in der Präsenz verlässlicher Persönlichkeiten, die sich innerhalb der Leitplanken der politischen Kultur bewegen – jene, die Sokrates die „goldenen Edlen“ nannte. Sie widerstehen der Korruption, treten unbeirrt für Gerechtigkeit und den Dienst an der Gemeinschaft ein und wahren die höchsten Standards an Integrität. Exil, Drohungen und Gefangenschaft haben mein Engagement für Gerechtigkeit nicht geschwächt, sondern gestärkt. Die größte Freude eines denkenden Geistes liegt darin, menschliche Tugenden zu fördern und das Richtige zu verteidigen – nicht darin, die Schreie unschuldiger Opfer zu ignorieren.

Zu meiner eigenen Geschichte: Ich war ein Richter mit Doktortitel, ein international anerkannter Jurist und stellvertretender Vorsitzender der ersten Studienkommission der Internationalen Richtervereinigung (IAJ). Ich bin Familienvater, verheiratet und habe drei Kinder. Die Erfahrungen in der Familie gehören zu den bedeutendsten und wertvollsten meines Lebens. Doch die größte Berufung war die Möglichkeit, zu den zeitlosen Werten beizutragen, für die unsere Vorfahren gekämpft haben – Werte, die wir bewahren und an künftige Generationen weitergeben müssen. Indem wir diese Ideale und Normen zum Wohle der gesamten Menschheit erhalten, stellen wir sicher, dass unsere Kinder eines Tages mit Stolz auf ein rechtsstaatliches Erbe zurückblicken können, das ihre Eltern bewahrt haben.

Diese Einstellung hatte für mich einen hohen persönlichen Preis – Exil, Entlassung, Verhaftungen unter Anklagen, die lebenslange Haft vorsahen, und schließlich eine Verurteilung zu 100 Monaten, von denen ich 63 abzusitzen hatte. Ich habe mediale Diffamierung und Drohungen durch einflussreiche Justizvertreter erlebt, weil ich unrechtmäßige Vorteile abgelehnt habe und unbeirrt für Prinzipien, Ideale und die richterliche Unabhängigkeit auf nationaler und internationaler Ebene eingetreten bin.

Meine Kollegen und ich im Vorstand der türkischen Richtervereinigung YARSAV sollten zum Schweigen gebracht werden – wegen der Glaubwürdigkeit, die wir in der Zeit vor dem Putschversuch 2016 durch unsere konsequenten Handlungen und wirkungsvollen Berichte international aufgebaut hatten. Doch während wir eingesperrt und zum Schweigen gebracht worden sind, haben Richter weltweit diesem Unrecht in bemerkenswerter Solidarität laut und deutlich widersprochen.

Die Europäische Richtervereinigung (EAJ) und andere haben die Plattform für eine unabhängige Justiz in der Türkei gegründet, um sich für verfolgte türkische Kolleginnen und Kollegen einzusetzen. Die EAJ hat einen Vorsorgefonds eingerichtet, um die Familien der verfolgten türkischen Richter und Staatsanwälte zu unterstützen. Richter aus ganz Europa haben Geld gespendet, das diskret an die betroffenen Familien übergeben worden ist. Schweizer und deutsche Kolleginnen und Kollegen haben eine entscheidende Rolle bei der Umsetzung dieses beispiellosen Aktes richterlicher Solidarität gespielt.

Trotz meiner Verhaftung unter Terror- und Putschvorwürfen bin ich 2016 und 2018 erneut zum Vizepräsidenten der ersten Studienkommission der IAJ gewählt worden, was die Solidarität der internationalen Richterschaft deutlich widergespiegelt hat. 2016 hat das Europäische Netzwerk der Justizräte den Obersten Justizrat der Türkei ausgeschlossen, da er die Grundsätze der richterlichen Unabhängigkeit nicht gewährleistet hat. Murat Arslan, YARSAV-Präsident, ist von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats mit dem Václav-Havel-Menschenrechtspreis ausgezeichnet worden. Aus Solidarität haben nahezu alle nationalen Richtervereinigungen die Verfolgung türkischer Richter verurteilt und die Behörden zum Handeln aufgefordert. Richter aus dem Ausland haben als Beobachter an unseren Gerichtsverhandlungen teilgenommen, um Solidarität zu zeigen und Unregelmäßigkeiten zu dokumentieren. Sie haben uns zudem unterstützt, indem sie unsere Familien besucht haben.

Wegen dieser Unterstützung sind die internationalen Organisationen von der Türkei als terroristische Vereinigungen gebrandmarkt worden, wie meine Anklage und Urteilsbegründung zeigen. Ihren führenden Vertretern droht nun die Verhaftung in der Türkei. Doch die Richter der internationalen Gemeinschaft haben mit ihrem Einsatz ein unvergängliches Vermächtnis hinterlassen. Alle diese Initiativen haben geholfen und helfen immer noch. Eine tiefe und gemeinsame Verantwortung, die Gerechtigkeit zu wahren und die grundlegenden Werte der Zivilisation zu verteidigen, liegt auf unseren Schultern. 

Dr. Mehmet Tank,

ehemaliger türkischer Richter und Ex-Vizepräsident der ersten Studienkommission der Internationalen Richtervereinigung, lebt heute mit seiner Familie in der Schweiz. Er arbeitet dort als Rechtsberater.