Die eigenen Regeln ernst nehmen

Die AfD führt die Opposition an, aber prestigeträchtige Posten wie etwa den Bundestagsvizepräsidenten kann sie weiterhin nicht besetzen und schimpft über ein angebliches „Parteien-Kartell“. Ist dieser Weg der Parteien der Mitte richtig und wie hoch ist der Preis?

 

Die AfD im Bundestag ist so stark wie nie. Das Ergebnis von 2021 hat die in Teilen rechtsextreme Partei verdoppelt – trotz aller Warnungen des Verfassungsschutzes, trotz der Versuche der CDU, der AfD thematisch das Wasser abzugraben. Die AfD ist mit 152 Abgeordneten die zweitstärkste Kraft im Bundestag, Oppositionsführerin. Eine Machtoption hat sie allerdings nicht. Mit ihr will niemand regieren und auch einflussreiche Posten kann die Partei nicht besetzen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd Baumann, spricht daher vom „Parteien-Kartell“. Die Parteien der Mitte verteidigen ihren Entschluss, die AfD von Machtpositionen im Bundestag fernzuhalten.

 

In manchen Fällen, aber nicht immer, wurden Regeln geändert. Eine sogenannte Lex AfD ist etwa die Entscheidung von 2017, dass Alterspräsident nicht mehr der oder die älteste Abgeordnete sein solle, sondern das am längsten dem Parlament angehörende Mitglied. Durch diese Änderung der Geschäftsordnung des Bundestags wurde jüngst zum dritten Mal verhindert, dass die konstituierende Sitzung von einem AfD-Politiker eröffnet wurde. Die erste Sitzung des 21. Bundestags am 24. März 2025 wurde vom 77-jährigen Linken-Politiker Gregor Gysi geleitet statt vom 84-jährigen Alexander Gauland von der AfD. Für den Bundestagsvizepräsidenten braucht es keine Änderung in Rechtstexten, um die AfD fernzuhalten. Denn die Geschäftsordnung des Bundestags sieht zwar vor, dass jede Fraktion ein Mitglied des Präsidiums stellen darf. Im nächsten Satz ist aber zu lesen, dass gewählt nur sei, wer die Stimmen der Mehrheit der Abgeordneten erhält. Zwischen den Fraktionsspitzen gibt es Absprachen, die Vorschläge gegenseitig zu akzeptieren. Mit der AfD gibt es das nicht, bisher hat kein Kandidat der AfD diese Mehrheit bekommen.

 

Bei Ausschussvorsitzenden haben es die anderen Parteien zum Teil anders gehandhabt. AfD-Abgeordnete saßen nach der Wahl 2017 dem Haushalts- und dem Rechtsausschuss vor, allerdings wurde Stephan Brandner nach unsäglichen, zum Teil antisemitischen Tweets wieder abgewählt. Das Bundesverfassungsgericht billigte die Abwahl ebenso wie die Entscheidung der Mehrheit des Bundestags in der darauffolgenden Legislaturperiode, die Kandidaten der AfD nicht zu Ausschussvorsitzenden zu wählen.

 

Das rechtliche Placet aus Karlsruhe sagt aber noch nichts über die politische Klugheit dieser Strategie. Es ist schon richtig: Derzeit gibt es wenig Hoffnung, dass sich die AfD durch Verantwortungsübertragung zähmen ließe. Sie ist auf einem Kurs der Radikalisierung, es besteht Grund zur Sorge, dass sie die Macht missbraucht, um die parlamentarische Demokratie verächtlich zu machen und zu beschädigen. Auch auf die Entzauberung durch eine katastrophale Amtsausübung sollte man nicht hoffen. Es ist richtig, in dieser Frage nicht naiv zu sein. Und trotzdem: Der größere Schaden für unser System entsteht, wenn sich die Demokraten selbst nicht mehr an die Regeln halten oder sie nicht gleichermaßen auf alle Akteure anwenden. Das wiegt schwerer als die Qual, einer Rede Gaulands anlässlich der konstituierenden Sitzung zuzuhören. Stattdessen lohnt es sich, über andere Wege nachzudenken, etwa Sanktionen für schädigendes Verhalten. Im Fall des Bundesvizepräsidenten zum Beispiel fehlt es an einer Regelung zur Abwahl. Die Ironie an der Geschichte: Ausgerechnet die AfD hatte vor einigen Wochen beantragt, die Geschäftsordnung entsprechend zu ergänzen.

 

Dr. Helene Bubrowski
ist stellvertretende Chefredakteurin bei Table.Media.