Schriftliche Zeugenbelehrung

43. Jahrgang – Heft 5 – Mai 1965

 

Gemäß § 57 StPO obliegt dem Vorsitzenden des Gerichts die Belehrung der Zeugen. Diese besteht aus der Ermahnung zur Wahrheit sowie der Eidesbelehrung. Die Bestimmung des § 57 StPO stellt zwar eine bloße Ordnungsvorschrift dar. Auf ihre Verletzung kann daher die Revision nicht gestützt werden. Denn sie ist nicht im Interesse des Beschuldigten, sondern vielmehr allein im Interesse des Zeugen erlassen. Ihre praktische Ausgestaltung im einzelnen ist ferner eine Frage richterlichen Ermessens. Dennoch kann nicht verkannt werden, daß die praktische Handhabung von § 57 StPO zugleich eine gewichtige Rolle in der Statistik der Meineidsverfahren spielt. Denn mancher Meineid geht allein auf das Konto unrichtiger oder unvollständiger Zeugenbelehrung. Ganz abgesehen davon verbirgt sich in der Vorschrift des § 57 StPO bisweilen der goldene Schlüssel, welcher das Tor materieller Erkenntnis der Wahrheit zu öffnen vermag. <…>

 

In dem Bewußtsein der Tragweite und Bedeutung des § 57 StPO liegt wohl auch die – in der Praxis geborene – Anregung begründet, die Zeugen nicht etwa nur mündlich, sondern vielmehr zusätzlich noch – in ausführlicher und eindringlicher Form – schriftlich zu belehren. Diese Anregung wird bereits teilweise in die Tat umgesetzt. Hierbei handelt es sich um eine Art vervielfältigter Formulare, welche dem Zeugen ausgehändigt werden. Darin wird diesem die Mitverantwortung für die richterliche Wahrheits- und Urteilsfindung eindringlich zu Bewußtsein gebracht.

 

Der vorgenannte Gedanke erscheint zwar – zumal im Hinblick auf seine Praktikabilität – auf den ersten Blick bestechend. Denn einmal wird dadurch die sichere Gewähr geboten, daß der Richter – ganz abgesehen vom Zeitgewinn – bei der Belehrung der Zeugen keinen wichtigen Gesichtspunkt außer Betracht läßt. Denn die mündliche Belehrung hat der Richter nicht auswendig gelernt. Zum anderen wird er – zumindest bis zu einem gewissen Grade – von der Gefahr der Erstarrung im Schematismus befreit. Denn das Formular ist ausführlich und eindringlich abgefaßt. Nicht zuletzt kann sich der Zeuge darauf in aller Ruhe und mit voller Aufmerksamkeit konzentrieren. Dennoch erhebt sich die Frage, ob eine derartige Gestaltung und Handhabung des § 57 StPO mit den Prinzipien der Prozeßordnungen im Einklang steht. Wird ferner dadurch die Ermittlung der Wahrheit tatsächlich gefördert? Denn zunächst kann doch weder verkannt noch übersehen werden, daß der deutsche Strafprozeß allein vom Gebot der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit beherrscht wird. Bei dem Gebot der Mündlichkeit handelt es sich zugleich um ein unabdingbares Postulat. Freilich läßt sich hiergegen einwenden, der Grundsatz der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit betreffe lediglich das Verhältnis zum Prozeß- und Beweisstoff selbst. Dieses aber werde durch ein zusätzliches Formular im Sinne des § 57 StPO in keiner Weise berührt oder gar verletzt. Ein derartiges Argument scheint nicht allein die Tragweite der vorgenannten Praxis, sondern vielmehr insbesondere die Gefahr unzulässiger Umgehung des § 57 StPO zu verkennen. Denn es erhebt sich zugleich die Frage, wo die sichere Garantie oder Gewähr begründet liegt, daß nicht eines Tages das Formular selbst an die Stelle der erforderlichen mündlichen Zeugenbelehrung tritt. <…>

 

AGRat Dr. Robert Lorenz, Darmstadt