Anlässlich des Besuchs des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu hat Premierminister Viktor Orban am 6. April den Austritt Ungarns aus dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) verkündet. Damit schwächt Ungarn nicht nur den IStGH und den globalen Kampf gegen die Straflosigkeit schwerster völkerrechtlicher Verbrechen, sondern verletzt auch EU-Recht.
Die Argumentation ist abenteuerlich: Orban warf dem Gerichtshof auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Netanjahu Politisierung und fehlende Unparteilichkeit vor, weshalb „ein demokratischer Rechtsstaat wie Ungarn“ daran nicht länger mitwirken dürfe. Netanjahu bezeichnete den IStGH sogar als „korrupte Organisation“, der sich gegen Israel, nicht aber gegen seine „Peiniger“ gerichtet habe. Israel führe einen „gerechten Krieg mit gerechten Mitteln“, einen „Kampf gegen die Barbarei“ und „für die gesamte Zivilisation“. Ungarn sei „der erste Staat, der aus dieser Korruption und dieser Verkommenheit heraustritt“.
Zwei Regierungschefs im Konflikt mit der Justiz und dem Rechtsstaat kritisieren Strafgerichtshof
Zunächst entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass zwei Regierungschefs, die sich ihre nationale Justiz gefügig machen wollen und von denen gegen den einen Korruptionsverfahren laufen1, den IStGH als korrupt und politisiert bezeichnen. Tatsächlich stellt sich die Lage komplizierter und nüchterner dar. Die Anklagebehörde des IStGH führt seit Jahren Ermittlungen wegen möglicher völkerrechtlicher Verbrechen, begangen seit Juni 2014 im besetzten palästinensischen Gebiet (Gaza, Westjordanland und Ostlerusalem) durch israelische oder palästinensische Tatverdächtige. Diese Ermittlungen haben – nach Vorprüfung durch eine renommierte Expertengruppe – im Zusammenhang mit dem jüngsten Gaza-Krieg zur Beantragung von Haftbefehlen gegen zwei israelische Politiker (Premierminister Netanjahu und den damaligen Verteidigungsminister Joav Galant) und drei Hamas-Führer am 20. Mai 2024 geführt. Eine dreiköpfige Verfahrenskammer hat diesem Antrag einstimmig am 21. November teilweise bezüglich Netanjahu und Galant sowie eines der (damals noch nicht endgültig für tot erklärten) Hamas-Führer stattgegeben;2 inzwischen wurde das Verfahren gegen alle drei Hamas-Führer wegen ihrer bestätigten Tötung durch Israel eingestellt.3 Nur nebenbei sei gesagt, dass Israel aktiv die Rechtsschutzmöglichkeiten des IStGH-Statuts nutzt, um das Verfahren zu stoppen – und gerade einen Teilerfolg errungen hat.4 Die israelischen Rechtsvertreter jedenfalls scheinen also den IStGH nicht für eine politisierte und korrupte Organisation zu halten.
Ungarn bleibt zunächst dem IStGH-Statut verpflichtet
Der ungarische Austritt wird ein Jahr nach Abgabe der entsprechenden Notifikation beim UN-Generalsekretär wirksam. Zwar ist diese Notifikation bisher noch nicht eingegangen, doch die Regierung hat eine Verordnung (1090/2025, IV. 3.) und ein Austrittsgesetz (T/11449 v. 3.4.2025) vorgelegt, um sich parlamentarisch abzusichern. Ungarn bleibt bis zur Wirksamkeit des Austritts gegenüber dem IStGH verpflichtet, und zwar insbesondere zur Zusammenarbeit.5 Ungarn hätte Netanjahu also festnehmen müssen – ebenso wie jeder andere Vertragsstaat das tun müsste.6 Die fehlende innerstaatliche Umsetzung des ungarischen Vertragsbeitritts ändert an dieser völkerrechtlichen Verpflichtung nichts. Bemerkenswert ist aber insoweit, dass ein entsprechender Gesetzentwurf (T/4490) zur innerstaatlichen Umsetzung vom Auswärtigen Ausschuss des ungarischen Parlaments dem Plenum schon im September 2003 zur Verabschiedung empfohlen, dann aber im Mai 2006 von der Tagesordnung genommen wurde. Schon damals hatte die ungarische Regierung den IStGH also nur verhalten unterstützt, obwohl sie mit Péter Kovács seit März 2015 einen Richter stellt, der im Übrigen in seiner Funktion als Hochschullehrer die Vereinbarkeit des IStGH-Statuts mit der ungarischen Verfassung in mehreren Aufsätzen nachgewiesen hat.7
Die Austrittsankündigung hat in Ungarn nur begrenzte Diskussionen ausgelöst, viel weniger als die danach erfolgte, gegen die LGBTQ-Bewegung gerichtete Verfassungsänderung. Die Befürworter wiederholen im Wesentlichen die Regierungsposition, beispielsweise Péter Hack von der Eötvös-Lorand-Universität Budapest. Er behauptete in einem TV-Interview vom 3. April, dass der IStGH wie andere UN-Organe politisiert, für den israelisch-palästinensischen Konflikt nicht zuständig und es eine „krasse Lüge” sei, dass die einzige Demokratie im Nahen Osten nicht in der Lage und willens sein soll, etwaige Verbrechen zu untersuchen. Neben Kritik der politischen Opposition ist insbesondere eine Stellungnahme ungarischer Völkerrechtler vom 11. April erwähnenswert, wonach der Austritt nicht nur die Anstrengungen zur Verhinderung völkerrechtlicher Verbrechen und zur Sanktionierung der Verantwortlichen schwäche, sondern sich auch negativ auf die internationalen Beziehungen und die Reputation Ungarns auswirke.8
Das Schweigen der Europäischen Union ist erstaunlich
Das Präsidium der IStGH-Vertragsstaatenversammlung hat am 3. April zu Recht mit Sorge reagiert, denn der ungarische Austritt schwächt das „gemeinsame Streben nach Gerechtigkeit“ und das „globale Engagement für Rechenschaftspflicht“ für schwerste völkerrechtliche Verbrechen.9 Erstaunlich ist das Schweigen der Europäischen Union. Zur Erinnerung: Der Rat hat mit einem Beschluss vom 21. März 2011 (2011/168/GASP)10 die vorbehaltlose Unterstützung des IStGH bekräftigt und sich insbesondere dazu bekannt, seine „universelle Unterstützung“ durch „größtmögliche Beteiligung an ihm … zu fördern“, „die Integrität des Römischen Statuts zu wahren“, seine „Unabhängigkeit“ sowie seine „effiziente Funktionsweise“ und „die Zusammenarbeit“ mit ihm zu unterstützen. Dieser Beschluss ist „in allen seinen Teilen verbindlich“.11 Am 28. April 2006 hat die EU ein Abkommen mit dem IStGH über Zusammenarbeit und Unterstützung abgeschlossen. Der Rat hat zum 25-jährigen Bestehen des IStGH am 26. Juni 2023 an die „uneingeschränkte Unterstützung“ der EU in der Vergangenheit erinnert und diese für die Zukunft bekräftigt. Der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik wiederholte dieses Bekenntnis zuletzt am 16. Juli 2024, betonte die Entschlossenheit der EU, die Integrität des IStGH zu verteidigen, und rief „alle Staaten“ dazu auf, „mit dem IStGH zusammenzuarbeiten“.
Das Bekenntnis der EU zum IStGH ist also eindeutig. Es beruht auf den primärrechtlich verankerten Werten, insbesondere den Menschenrechten und der Achtung des Völkerrechts,12 die die EU weltweit fördern will13. In diesem Sinne spielt die Unterstützung des IStGH in den auswärtigen Beziehungen der EU eine zentrale Rolle, sie ist auch Gegenstand von Assoziierungsabkommen und von Beitrittsverhandlungen, wo der IStGH-Beitritt – als Teil des Acquis communautaire – eine Vorbedingung des EU-Beitritts ist.14
Ein IStGH-Austritt konterkariert diese EU-Politik und die darin zum Ausdruck kommenden Werte. Darin liegt nicht nur – auf einer allgemeinen Ebene – eine Verletzung der mitgliedstaatlichen Loyalitätspflicht,15 sondern auch – konkret – ein Verstoß gegen den erwähnten EU-Beschluss von 2011. Deshalb kommt ein Vertragsverletzungsverfahren nach Artikel 258 AEUV in Betracht. Die Kommission sollte insoweit aktiv werden – auch um für die Zukunft ähnlichen Schritten dieser Art vorzubeugen.
Prof. Dr. Dr. h. c. Kai Ambos
lehrt an der Universität Göttingen Strafrecht, Strafprozessrecht und Völkerrecht und ist Richter in Den Haag, Kosovo Specialist Chambers.
- Vgl. zu Israel Asseburg/Lintl, SWP Aktuell Nr. 16, April 2025.
- Vgl. Ambos, FAZ Einspruch 22.11.2024.
- ICC Pre-Trial Chamber I, Decision terminating proceedings against Mr Mohammed Diab Ibrahim Al Masri (Deif), 26.2.2025.
- ICC Appeals Chamber, Judgment on the appeal of the State of Israel against Pre-Trial Chamber I’s “Decision on Israel’s challenge to the jurisdiction of the Court pursuant to article 19(2) of the Rome Statute”, 24.4.2025 (Zurückverweisung an Vorverfahrenskammer zur genaueren Prüfung der Zuständigkeit).
- Art. 127 IStGH-Statut.
- Vgl. Ambos u. a., FAZ, 12.6.2024; Ambos, Verfassungsblog, 25.2.2025.
- Vgl. u. a. Kovács, Állam- és Jogtudmány [Staats- und Rechtswissenschaft] 60 (2019), 69.
- https://telex.hu/english/2025/04/11/in-our-view-the-
suspension-of-citizenship-is-an-unprecedented-concept-in-international-law. - https://www.icc-cpi.int/news/presidency-assembly-states-parties-responds-announcement-withdrawal-rome-statute-hungary.
- Den Gemeinsamen Standpunkt 2003/444/GASP vom
16. Juni 2003 ersetzend. - Art. 288 AEUV.
- Art. 2, 21 EUV.
- Art. 3 Abs. 1, Art. 21 EUV.
- Vgl. näher Art. 2 und 4 Beschluss 2011/168/GASP sowie Elsuwege, Verfassungsblog, 9.4.2025.
- Art. 4 Abs. 3 EUV.