Was Kognitionspsychologie für Justizjuristen bedeutet

Verlassen Sie sich lieber auf Ihre Intuition und entscheiden oft aus dem Bauch heraus? Oder durchdenken Sie lieber Probleme ausgiebig, um mit dem „Kopf“ zu entscheiden? Der Aufsatz gibt einen Einblick, wie wir „automatisch“ denken und schnell und intuitiv entscheiden und wann wir analytisch und reflektiert vorgehen.

 

Zum Verständnis des Beitrags wäre es sinnvoll, wenn Sie zunächst folgende Fragen beantworten:

 

  1. Der Händler H macht in zwei getrennten Geschäften mit A und B insgesamt 1100 Euro Gewinn. Der Handel mit dem A bringt ihm 1000 Euro mehr ein als der Handel mit B. Wie viel hat H im Handel mit B verdient?

 

  1. In einer Basketball-Mannschaft ist die Wahrscheinlichkeit, dass Spieler über zwei Meter Körpergröße einen Korb werfen, dreimal so hoch wie bei den kleineren Spielern. In diesem Jahr hat die Mannschaft 60 Körbe geworfen. Wie viele davon wurden von den kleineren Spielern geworfen?

 

  1. Eine Person wiegt 50 Kilogramm plus die Hälfte ihres Gewichts. Wie viel wiegt die Person?

 

Denken auf zwei Wegen

 

Seit Daniel Kahneman 2011 seinen populärwissenschaftlichen Weltbestseller „Schnelles Denken, langsames Denken“ publiziert hat, gehört die Hypothese, dass sich menschliches Denken in zwei Systemen vollzieht, zunehmend zum Allgemeinwissen. Kahneman war bei Weitem nicht der erste Forscher, der über die Systeme 1 und 21 nachdachte, und schon gar nicht der letzte. Die Begriffe gehen auf das Modell des „dual process thinking“ zurück, das zwischen automatischem und reflektiertem Denken unterscheidet und schon in den 1970er-Jahren von einem der damals führenden Kognitionspsychologen, dem Briten Peter C. Wason, in seinen Grundlagen erforscht wurde.2 Dieses wissenschaftlich auch heute noch prinzipiell anerkannte Modell beruht auf der Idee, dass menschliches Denken sowohl schnelle, intuitive Prozesse als auch langsame, reflektierte Prozesse umfasst. Vor allem in der wissenschaftlichen Untersuchung der Frage, wie wir Menschen denken, urteilen und entscheiden,3 mit anderen Worten: In der Kognitionspsychologie, ist das Modell maßgebend.

 

Die beiden Denksysteme kennen viele Synonyme, die zugleich auch ihre jeweilige „Zuständigkeit“ andeuten. Für das stammesgeschichtlich ältere System 1 sind in Gebrauch: schnelles, automatisches oder assoziatives Denken, Heißes System, Autopilot, Bottom-up-System, Unterbewusstsein oder Schnellkognition.4 System 1 umfasst alle Arten von schnellen, automatischen und unbewussten Prozessen unseres Gehirns. Das sind insbesondere Reflexe, gelernte Routinen, affektive Reaktionen, die unbewusste Anwendung von Urteils- und Entscheidungsheuristiken und – besonders prominent – die Intuition oder speziell bei Juristen und beschränkt auf rechtliche Einschätzungen das berühmt-berüchtigte Judiz.

 

Gepard und Schnecke

 

System 1 ist praktisch immer zur Stelle: Sie sehen ein Gesicht und können im Bruchteil einer Sekunde erkennen, ob die Person heiter, traurig oder wütend ist. Sie fahren seit 30 Jahren unfallfrei Auto und sind nun auf einer wenig befahrenen Fernstraße unterwegs; während Ihr System 1 das Auto steuert, können Sie (beziehungsweise System 2) über ein Problem nachdenken oder sich mit dem Beifahrer unterhalten. Sie erkennen blitzschnell, welche von zwei Personen die Mutter und welche das achtjährige Kind ist. Sie (als ausgebildeter Jurist) werden gefragt, was die Abkürzung BGB bedeutet. Sie lesen als erfahrene Richterin erstmals Klageschrift und Erwiderung und wissen (ahnen, fühlen), wie der Prozess ausgehen wird. Das System 1 arbeitet blitzschnell, benötigt kaum Energie und versorgt Sie immerfort mit Vorschlägen, wie jetzt gedacht, geurteilt, entschieden und gehandelt werden sollte.

 

Ganz anders System 2. Dieses stammesgeschichtlich junge System, auch langsames, analytisches, reflexives oder regelbasiertes Denken, kaltes oder willentliches System genannt, arbeitet langsam und bewusst, benötigt enorme Mengen an Energie und geht einher mit Konzentration. System 2 wird etwa zuständig, wenn Sie das Quotenvorrecht des Versicherers erklären sollen, § 34 I 2 EStG (Fünftelregel) verstehen wollen oder einfach im Kopf die Zahl 47 quadrieren müssen. Ihr System 2 ist auch jetzt im Einsatz, ganz besonders, wenn Sie von der hier beschriebenen Materie noch nie etwas gehört haben.

 

Die beiden Denksysteme haben keine eindeutige neuronale Entsprechung, es gibt also kein einzelnes Gehirnareal, das eines der beiden Systeme beherbergt. Allerdings geht man davon aus, dass System 1 in den Strukturen des limbischen Systems sowie dem Stammhirn beheimatet ist. System 2 hingegen wird dem präfrontalen Kortex, einem Teil des Frontallappens der Großhirnrinde, zugeordnet, in dem auch unser bewusstes Denken verortet wird.

 

Die beiden Systeme arbeiten in der Regel Hand in Hand, wobei die Hauptarbeit gewöhnlich von System 1 geleistet wird und System 2 sich eher ausruhen will. Man könnte also auch vom fleißigen System und vom faulen System sprechen. Erst wenn ein für System 1 unlösbares Problem auftaucht, tritt System 2 auf den Plan. Das ist offensichtlich eine hochprobate Kompetenzverteilung, hat sie uns doch im Lauf der Evolution als Art überleben lassen, ja sogar an die Spitze der Nahrungskette gestellt.

 

Systemkonflikte

 

Allerdings konfligieren die beiden Systeme auch mitunter, und zwar dann, wenn eines die Oberhand behält, obwohl das andere die gerade anstehende Aufgabe besser erledigen könnte. Um das selbst zu erleben, schauen Sie sich – wichtig: bevor (!) Sie nach diesem Satz weiterlesen – auf Youtube einen kleinen Film des Bayerischen Rundfunks an und folgen Sie den dortigen Anweisungen (https://www.youtube.com/watch?v=ofWDWfXB-N0). Wenn beispielsweise unser System 2 in höchster Konzentration mit einer Aufgabe befasst ist, kann das zur Gefahrenbewältigung viel besser geeignete System 1 praktisch ausgeschaltet sein. Sofern Sie meiner Empfehlung gefolgt sind und sich den Film angeschaut haben, könnte es sein, dass auch Sie den „gefährlichen“ Gorilla5 nicht gesehen haben, obwohl er durch das Bild gelaufen ist. Dann waren Sie zu intensiv mit dem Zählen der Ballwechsel beschäftigt (System-2-Aufgabe). Deshalb war es für unsere Vorfahren, als sie noch in Höhlen lebten, nicht sonderlich sinnvoll, sich zu sehr auf eine Sache zu fokussieren und damit das zum Survival of the Fittest so eminent wichtige System 1 zu paralysieren. Diejenigen, bei denen man heute ADHS diagnostizieren würde, waren damals klar im Vorteil, weswegen sie auch nicht aus dem Genpool ausgeschieden sind.

 

Umgekehrt kann System 1 – heutzutage fataler – so dominant sein, dass System 2 nicht in Aktion tritt und auf seiner faulen Haut liegen bleibt. Das geschieht, wenn man sehr erschöpft oder alkoholisiert ist, die Ablenkung zu stark wird, wenn das zu lösende Problem zu komplex oder die Zeit zur Lösung zu knapp ist, um nur einige Beispiele aufzulisten.

 

Der kognitive Stil

 

Ein Aspekt kann aber auch in unserer Persönlichkeit liegen. Auch wenn dem Einzelnen beide Denksysteme zur Verfügung stehen, so ist doch die Stärke und Häufigkeit, mit der wir die Systeme einsetzen (wollen), von Person zu Person unterschiedlich. Wir kennen Menschen, die sich in aller Regel auf ihre Intuition verlassen (man könnte sie Bauchmenschen nennen), und solche, die auch das kleinste Problem noch ausgiebig durchdenken wollen (Kopfmenschen). Die Skala zwischen diesen Extremen ist breit. Eine Hilfestellung für die eigene Einordnung könnten die drei Fragen zu Beginn des Beitrags liefern. Wenn Sie sich auf den Test eingelassen haben, rückt Sie dies schon ein wenig in Richtung Kopfmensch. Deutlichere Schlüsse aber lassen Ihre Antworten zu. Der Test ist eine Art Cognitive Reflection Test (CRT). Fragen, die Ihnen im Rahmen eines solchen Tests gestellt werden, haben die erstaunliche Eigenschaft, dass System 1 nach Lektüre der Frage sofort oder sehr schnell eine Antwort zur Verfügung stellt, und zwar verbunden mit einem mehr oder weniger starken Gefühl, dass diese Antwort richtig ist und keiner Kontrolle mehr bedarf. Bei der ersten der zu Beginn gestellten Fragen ist dies beispielsweise Zahl 100. Alle intuitiv gefundenen Ergebnisse – und dies ist das Besondere dieser Tests – sind falsch. Der Gewinn beim Handel mit B liegt tatsächlich nur bei 50 Euro. Nur 15 Körbe gingen auf das Konto der kleineren Spieler. Und das gesuchte Gewicht sind in Wirklichkeit 100 kg.

 

CRT sollen nicht den Intelligenzquotienten messen (und tun dies auch nicht),6 denn die Aufgaben sind so konstruiert, dass diejenigen, denen sie vorgelegt werden, über das notwendige Know-how zur Lösung verfügen. CRT sollen vielmehr die Stärke der Neigung eines Menschen messen, spontan auftretende, intuitive Antworten zu hinterfragen und durch analytisches Denken zu überprüfen. Mithin die Fähigkeit der Impulskontrolle und die Bereitschaft, (intuitiv) gefundene Antworten zu überdenken und einen eventuell auch schwierigen Prozess des Nachdenkens einzuleiten. Mit kurzen Worten: CRT messen den „kognitiven Stil“.

 

Der erste CRT bestand ebenfalls aus drei Fragen, wurde im Jahr 2005 von Shane Frederick vorgestellt7 und hat eine bahnbrechende Forschung ausgelöst. In unzähligen psychologischen, wirtschaftswissenschaftlichen und kognitionswissenschaftlichen Studien wurden vermutlich Hunderttausende von Menschen aus aller Welt mit einem CRT konfrontiert.

 

Justizjuristen in den Systemen

 

Bei Juristen, insbesondere auch bei Staatsanwälten und Richtern, wäre es sicher wünschenswert, wenn sie eher zu jenen gehörten, die dem ohnehin mächtigen System 1 nicht die Dominanz überlassen, die es permanent erheischt. Es brauchte auch nicht lange, bis (US-amerikanische) Richter mit dem CRT konfrontiert wurden. Die spannende Frage war, ob sie besser abschnitten als der Durchschnitt der erwachsenen Amerikaner. Das Ergebnis war eher ernüchternd. Ohnehin waren schon die Ergebnisse der Studie von Shane Frederick zum Teil dramatisch. Er hatte seinen CRT knapp 3500 Studenten verschiedener amerikanischer Universitäten vorgelegt. Im Schnitt beantworteten die Studenten 1,24 der 3 Fragen zutreffend.8 Es war der Jurist und Psychologe Jeffrey J. Rachlinski, der 2006 wissen wollte, wie Richter beim CRT abschneiden. Er legte den Original-CRT knapp 300 Bezirksrichtern aus Florida vor, die an einer Jahrestagung teilnahmen. Immerhin 252 Richter beantworteten die Fragen und retournierten den Test. Das Ergebnis: 1,23 Fragen wurden richtig beantwortet.9

 

In Deutschland existieren – soweit ersichtlich – keine publizierten Studien, die denen von Rachlinski entsprechen. Trotzdem kann davon ausgegangen werden, dass deutsche Justizjuristen erheblich besser im CRT abschneiden als ihre amerikanischen Kollegen. Um den Teilnehmern von Tagungen an der Deutschen Richterakademie (DRA), die seit 2016 stattfinden, und den Teilnehmern von Vorträgen, die seit Jahren im Auftrag eines Landesjustizministeriums gehalten werden, ein Aha-Erlebnis zu ermöglichen, wurde zunächst gebeten, den Original-CRT, geringfügig umformuliert und um weitere Fragen erweitert, zu beantworten. Während über die Jahre insgesamt fast 200 Tagungsteilnehmer an der DRA im Schnitt knapp 2 (der ersten drei) Fragen zutreffend beantworten konnten, waren es bei den insgesamt rund 170 Zuhörern der Vorträge im Schnitt sogar knapp 2,5 richtige Antworten.

 

Das auf den ersten Blick überraschend wirkende, deutlich unterschiedliche Ergebnis zwischen Tagungsteilnehmern und Zuhörern hat eine einfache Erklärung, die ebenfalls zum Aha-Effekt gehört. Während die Teilnehmer an der Tagung der DRA am Abend des Anreisetages zwischen 20 Uhr und 21 Uhr mit dem Test konfrontiert wurden, also nach einem anstrengenden Reisetag, einem reichhaltigen Abendessen in der DRA und einer Vorstellungsrunde, bekamen die Zuhörer der Vorträge den Fragebogen einige Wochen vor dem Vortrag per E-Mail geschickt und konnten frei entscheiden, wann und mit welchem Zeitaufwand sie den Fragebogen ausfüllen wollten. Außerdem wurden die Kolleginnen und Kollegen an der DRA während des Tests auch noch mit einer gewichtigen Ablenkung konfrontiert und gewissermaßen unter Zeitdruck gesetzt („Wenn Sie noch in die Kellerbar wollen, sollten Sie jetzt langsam zum Ende kommen“). Ein zusätzlicher Druck kam im Schulungsraum spätestens auf, sobald die ersten Teilnehmer ihren Fragebogen abgegeben hatten.

 

Der Lerneffekt ist klar und wurde oben bereits angedeutet: Wenn wir erschöpft oder müde sind, verlassen wir uns erheblich stärker auf unser System 1 als zu einem Zeitpunkt, in dem wir ausgeruht und noch voller Energie sind. Wenn wir unter Zeitdruck stehen, gewinnt unser System 1 an Einfluss auf unsere Entscheidungen. Wenn wir abgelenkt sind, ist es wahrscheinlich, dass System 1 die Kontrolle übernimmt.

 

Heureka!

 

System 1 arbeitet heuristisch. Heuristiken10 sind einfache Urteils- oder Entscheidungsstrategien, die wir anwenden, wenn uns zu wenig Informationen oder Zeit zur Verfügung stehen. Man kann sie auch Faust- oder Daumenregeln nennen. Wenn wir einen Gegenstand des täglichen Lebens benötigen, etwa ein Waschpulver, wenden wir häufig die Heuristik an: „Kauf das, das du immer schon gekauft hast!“ Wenn dieses Waschmittel aber gerade ausverkauft ist, könnten wir nach der Daumenregel vorgehen: „Nimm das teuerste!“ Eine populäre Heuristik lautet: „Mach das, was die anderen machen!“ Eine beliebte Heuristik der Juristen enthält dementsprechend die Empfehlung: „Folge der herrschenden Meinung!“ Eine ihrer unseligsten Heuristiken lautet: „Glaube dem Zeugen!“ Wir wenden Heuristiken an, weil sie sich schon häufig – tatsächlich oder auch nur vermeintlich – bewährt haben. Wenn es um Urteile11 geht, werden Heuristiken häufig intuitiv und sogar unbewusst eingesetzt. Geht es um Entscheidungen, benutzen wir die Daumenregeln oft sogar ganz bewusst. Wir halten unser Gegenüber für erfolgreich, ohne zu merken, dass wir das aus seinem Auftreten, seiner hochwertigen Kleidung und seinem gepflegten Äußeren schließen (unbewusste Urteilsheuristik: „Erfolgreiche Menschen haben einen bestimmten Habitus“). Wir entscheiden uns beispielsweise heute schon, ein Ticket für eine Bahnfahrt in einem halben Jahr zu kaufen, weil wir ganz bewusst an die Faustregel denken „Der frühe Vogel fängt den Wurm“ (bewusste Entscheidungsheuristik).

 

In aller Regel führen uns Heuristiken zum gewünschten Ziel und wir könnten ohne die Anwendung von Heuristiken gar nicht überleben. Bei der Vielzahl der zu fällenden Entscheidungen wären wir völlig überfordert, wenn wir jede davon aufgrund eines analytischen Prozesses treffen wollten. Der bekannte Kognitionspsychologe Gerd Gigerenzer vertritt mit guten Gründen die Ansicht, dass heuristisches Entscheiden dem analytisch abwägenden Entscheiden in vielen Fällen überlegen ist.12

 

In der Tat führt heuristisches Vorgehen zu brauchbaren, manchmal sogar zu besseren Ergebnissen. Das gilt vor allem dann, wenn jemand in einem bestimmten Bereich geübt ist. Ein Großmeister im Schach wird in jeder Situation intuitiv die besten zwei, drei Züge erkennen und nur diese in der Tiefe berechnen. Ein seit vielen Jahren tätiger Augenarzt wird mit einem kurzen Blick in die Augen des Patienten die wahrscheinlich richtige Diagnose stellen. Und eine Rechtsanwältin, die seit vielen Jahren im Familienrecht tätig ist, findet vermutlich auch ohne den Einsatz des Systems 2 die richtige Strategie für ihre Mandantin. Bei sehr komplexen und schwierigen Entscheidungen kann es sogar sein, dass wir tage- oder wochenlang über das zu lösende Problem nachdenken, Informationen sammeln und bewerten (System 2) und eines schönen Morgens aufwachen und den Lösungsweg plötzlich klar vor uns sehen. Auch hierzu hat System 1 entscheidend beigetragen: Es hat – ohne dass es uns bewusst wurde – Informationen miteinander verknüpft, die uns zuvor vielleicht sogar disparat erschienen, und von System 2 längst vorgenommene Analysen ausgewertet.

 

So unglaublich flink und regelmäßig zuverlässig System 1 auch sein mag, führt es uns doch aufgrund seiner assoziativen und heuristischen Methoden mitunter in die Irre. In einigen Bereichen versagt unsere Intuition sogar regelmäßig, und zwar auch bei denen, die wir als Kopfmenschen bezeichnen. Bauchmenschen müssen doppelt aufpassen, ist doch ihr kognitiver Stil unter einigen Aspekten nachteilig. Wer schlechte Werte im CRT erzielt, ist gegenüber demjenigen mit höheren Werten unter anderem empfänglicher für Verschwörungserzählungen, legt eher ein falsches Geständnis ab und ist anfälliger für Denkverzerrungen und Illusionen. Was das alles für Justizjuristen bedeutet, soll in weiteren DRiZ-Beiträgen in loser Folge weiter beleuchtet werden.

 

Dr. h. c. Stefan Kaufmann*
ist Präsident des Oberlandesgerichts Thüringen a. D. Er war zudem Präsident des Verfassungsgerichtshofs in Thüringen.

 

  • * Der Autor hat zahlreiche Vorträge und Vorlesungen zu psychologischen Themen vor Juristen gehalten und ist Verfasser des Buchs „Rational urteilen und entscheiden. Und warum wir häufig nur glauben, dass es uns gelingt“.
  1. Geprägt wurden die Begriffe von Keith Stanovich und Richard West in ihrem Beitrag „Individual Differences in Reasoning: Implications for the Rationality Debate?“ (Behavioral and Brain Sciences, 2000, Vol. 23, 645 [658 ff.]).
  2. Peter C. Wason, Jonathan Saint B. T. Evans, Dual processes in Reaoning?, Cognition 3(2), 141 ff.
  3. Während Juristen häufig die Begriffe urteilen und entscheiden synonym verwenden – sie sprechen ebenso vom Urteil des BGH wie von der Entscheidung des BGH –, differenzieren Psychologen. Hier nur kurz: Eine Entscheidung ist die Auswahl einer von mehreren Optionen. Das Urteil geht der Entscheidung voraus und bewertet (u. a.) die Optionen.
  4. Walter Mischel, The Marshmallow Test. Mastering Self-Control, 2014; Robert B. Cialdini, Die Psychologie des Überzeugens, 2017 (8. Aufl.); Daniel Coleman, Focus: The Hidden Driver of Excellence, 2013; Stefan Kölsch, Die dunkle Seite des Gehirns. Wie wir unser Unterbewusstes überlisten und negative Gedankenschleifen ausschalten, 2022; Christopher Chabris, Daniel Simons, Der unsichtbare Gorilla. Wie unser Gehirn sich täuschen lässt, 2011.
  5. Vgl. näher Christopher Chabris, Daniel Simons, Der unsichtbare Gorilla, 2010.
  6. Allerdings haben verschiedene Studien eine moderate Korrelation festgestellt zwischen dem IQ und den Ergebnissen, die bei CRT erzielt werden. Der Korrelationskoeffizient wird zwischen 0,3 und 0,5 angesiedelt (vgl. etwa Maggie E. Toplak, Richard F. West, Keith E. Stanovich, The Cognitive Reflection Test as a predictor of performance on heuristics-and-biases tasks, Memory & Cognition, 2011, Vol. 39, S. 1275).
  7. Shane Frederick, Cognitive Reflection and Decision Making, Journal of Economic Perspectives, Vol. 19, No. 4, S. 25 ff.
  8. Ebenda, S. 29.
  9. Jeffrey J. Rachlinski, Chris Guthrie, Andrew J. Wistrich, „Judging the Judiciary by the Numbers: Empirical Research on Judges“, Annual Review of Law and Social Science (2017), S. 1 [14].
  10. Der Begriff stammt aus dem altgriechischen εὑρίσκειν (evriskin), was so viel wie entdecken, finden bedeutet.
  11. Siehe Fn. 3.
  12. Vgl. etwa Gerd Gigerenzer, Bauchentscheidungen, 2008 (passim); derselbe in „Werfen Sie einfach eine Münze …“, Psychologie Heute, März 2012, S. 64, 67; seine Beweisführung wird aber als „recht anekdotisch“ von Teilen der Literatur in Zweifel gezogen, vgl. Rüdiger von Nitzsch, Entscheidungslehre.