Argentiniens ultrarechter Präsident Javier Milei saniert nicht nur unter Hochdruck mit drastischen Maßnahmen Wirtschaft und Finanzen. In deren Schatten baut er auch den Rechtsstaat ab, regiert mit Dekreten, schleift Bürger- und Grundrechte und geht hasserfüllt gegen alles vor, was seiner radikalen Ideologie widerspricht. Das Land sei auf dem Weg in eine illiberale Demokratie, sagen Experten.
Anfang November flog Javier Milei zum 14. Mal seit seiner Wahl als Argentiniens Staatschef vor zwei Jahren in die USA. Die Reise zum America Business Forum in Miami war Mileis erste seit dem überraschenden Sieg seiner Partei La Libertad Avanza (LLA) bei den Parlamentszwischenwahlen von Ende Oktober. Entsprechend triumphierend und wie gewohnt aggressiv trat er vor argentinischen und US-amerikanischen Wirtschaftsführern auf. Er beleidigte seine politischen Gegner und kündigte einen weiteren Umbau des argentinischen Staates an. „Wir werden mit dem neuen Kongress den Arbeitsmarkt deregulieren, Steuern senken, wir werden das Strafrecht reformieren, damit Verbrechen besser verfolgt und härter bestraft werden.“ Und dann ließ Milei seinen engsten Verbündeten, US-Präsident Donald Trump, hochleben. Dafür applaudierten ihm die fast 10.000 Zuschauer stehend, unter ihnen auch Amazon-Chef Jeff Bezos.
Seit Beginn seiner Präsidentschaft sucht Milei mit seinem radikal marktliberalen und demokratiefeindlichen Programm die Nähe zu Trump und den US-Tech-Milliardären. Und man darf annehmen, dass seine Partei bei der Kongressnachwahl kein so gutes Ergebnis erzielt hätte, hätte Trump nicht ein 40-Milliarden-Hilfspaket für Argentinien in Aussicht gestellt. Allerdings nur, wenn die LLA siegt.
Der US-Präsident erpresste die Argentinier also. Und sie machten mehrheitlich ihr Kreuz bei Mileis Partei. Denn ohne die finanzielle Rettungsweste, bestehend aus einem 20-Milliarden-Dollar-Währungstausch (Swap) sowie einer Kreditlinie über Privatbanken in Höhe von weiteren 20 Milliarden Dollar, wäre Argentinien auch mit Radikalreformer Milei in den tiefen Strudeln des wirtschaftlichen Kollapses versunken.
Milei kopiert sein großes Idol in Washington dabei auch in dessen Impetus, den Rechtsstaat, die Institutionen, die Zivilgesellschaft und auch die Medien zu schwächen. „Rechtsstaatlichkeit ist für Milei irrelevant“, analysiert der Argentinien-Experte Edgardo Buscaglia. Man könne dies am Vorgehen bei Richterernennungen sehen und an der Tatsache, dass er keine Motivation verspüre, die Justiz zu modernisieren oder die Institutionen zu stärken, unterstreicht der internationale Berater für Korruptionsbekämpfung und Lehrbeauftragte an der New Yorker Columbia University.
Der radikalliberale Ökonom Milei trat als fast völliger Outsider am 10. Dezember 2023 das Amt des Präsidenten in Buenos Aires an und legte umgehend seinen Fokus auf die Sanierung der Wirtschaft, der Staatsfinanzen sowie der Inflationsbekämpfung. Dafür hatte ihm die Bevölkerung ein Mandat erteilt. Mangels einer parlamentarischen Mehrheit nutzte Milei fürs Regieren die berüchtigten DNU (Decreto de Necesidad y Urgencia). Diese Not- und Dringlichkeitsdekrete sind in der Verfassung vorgesehene Ermächtigungen für die Exekutive, zunächst auch ohne parlamentarische Mehrheit in Notlagen Gesetze zu verabschieden. Es ist unter Experten aber umstritten, wie weit diese DNU gehen dürfen und was genau sie erlauben. Sie besitzen Gesetzeskraft, müssen aber vom Parlament überprüft werden. Speziell mit dem DNU 70/23 räumte sich Milei außerordentliche Befugnisse ein und rief bis zum Jahresende 2025 einen öffentlichen Notstand in Wirtschafts-, Finanz-, Steuer-, Verwaltungs-, Sozialversicherungs-, Zoll-, Gesundheits- und Sozialangelegenheiten aus.
Per Dekret den Rechtsstaat angreifen
Die DNU, die Milei eigentlich nur für die Sanierung der Staatsfinanzen nutzen wollte, setzt er aber auch für einen ideologisch geprägten Umbau der staatlichen Strukturen ein. So schränkte er Grund- und Bürgerrechte wie etwa die Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit ein, ließ Sicherheitskräfte auf Pensionäre einprügeln, die gegen das Einfrieren ihrer Renten protestierten. Er hob über achtzig Gesetze auf oder änderte sie grundlegend, um die Rolle des Staates in Dutzenden von Bereichen zu reduzieren, die täglich über das Leben von Millionen Menschen entscheiden: Arbeitsbeziehungen und Arbeitnehmerrechte, Mietverhältnisse, Grundbesitz, private Gesundheitsversorgung. Der exzessive Einsatz der DNU kollidiere in vielen Teilen mit der Verfassung, zum anderen sei die Praxis der Kürzungen in einigen Bereichen wie zum Beispiel der Gesundheit hart an der Grenze zum Verfassungsbruch, kritisiert Michael Álvarez Kalverkamp, Repräsentant der Heinrich-Böll-Stiftung in Buenos Aires. In Mileis Fokus steht auch die Unabhängigkeit der Justiz. Ende Februar berief der Präsident per Dekret die umstrittenen Juristen Ariel Lijo und Manuel García-Mansill an den Obersten Gerichtshof, nachdem es ihm nicht gelungen war, die für die Ernennung auf regulärem Wege erforderliche Zweidrittelmehrheit im Senat zu sichern. „Die Besetzung per Dekret ist einer der schwerwiegendsten Angriffe auf die Unabhängigkeit des Obersten Gerichtshofs in Argentinien seit der Rückkehr zur Demokratie“, kritisiert Juanita Goebertus, Amerika-Direktorin von Human Rights Watch. Aber Mileis radikale Demontage trifft auch Bereiche des Staates, die von der rechtsextremen Regierung als diametral zu ihrer Ideologie betrachtet werden. In Bereichen, welche die kulturellen und sozialen Grundfesten des Landes ausmachen, schließt er, schafft ab und kürzt Gelder. Vor allem bei den Erinnerungs- und Gedenkstätten im Zusammenhang mit der Geschichte der Diktatur (1976–1983) wütet er mit seinem Hass auf alles Linke.
Das Nationale Sekretariat für Menschenrechte wurde zu einem Untersekretariat degradiert. Das Nationale Erinnerungsarchiv und die Gedenkstätte auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers der Marinemechanikerschule ESMA verloren ihre Autonomie. Dasselbe Schicksal ereilte die Nationale Gendatenbank, welche die Suche nach den Kindern der während der Diktatur entführten Verschwundenen erleichtern soll.
Milei betreibt dabei Geschichtsrevisionismus, indem er die Militärs, die für Tausende Menschenrechtsverletzungen und Morde verantwortlich sind, zu den Rettern Argentiniens erhebt. Sie hätten das Land vor dem Kommunismus geschützt und seien keine Täter, sondern Opfer linker Guerillas.
Gleich zu Beginn seiner Amtszeit nahm er auch die reichhaltige und vor allem meist linke Kulturszene unter Feuer, die Argentinien von anderen Ländern des Kontinents abhebt. Milei wollte das Nationale Institut für Film und Audiovisuelle Künste (INCAA), das Nationale Institut für Musik (INAMU) und die Nationale Kommission für Volksbibliotheken (CONABIP) abschaffen und lässt sie, wo es nicht klappte, ausbluten. Auch das Nationale Theaterinstitut (INT) und den Nationalen Kunstfonds (FNA) schleift er.
Ein besonders Hassthema ist für den Ultrarechten zudem der Schwangerschaftsabbruch. Das Recht auf einen Abbruch bis zur 14. Woche ist erst seit gut vier Jahren in Argentinien in Kraft. Milei aber will Frauen für einen Schwangerschaftsabbruch ins Gefängnis stecken; selbst für einen Abbruch in Fällen von Vergewaltigung will er einen richterlichen Vorbehalt. Dass Milei gleich als nahezu erste Amtshandlung die gendersensible Sprache in allen Bundesbehörden abschaffen ließ, wirkt bei so viel Zerstörungswut und hassgeprägter Politik fast nur noch anekdotisch. Argentinien entwickle sich unter Milei zu einer illiberalen Demokratie, sagt die Politologin und Expertin in Demokratietheorie Claudia Heiss von der Universidad de Chile.