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Neue Wege durch die Datenflut

Digitale Straftaten steigen rasant, Strafverfolgungsbehörden geraten unter Druck. Fluten von Meldungen und Massen an digitalen Daten drohen Ermittlungen lahmzulegen. Nur abgestimmte Prioritäten und Standards zwischen Polizei und Justiz ermöglichen eine effektive Steuerung der Strafverfolgung. Ein Plädoyer für gemeinsames Handeln gegen Kriminalität im digitalen Raum. 

Digitale Straftaten nehmen seit Jahren unaufhaltsam zu. Die Geschwindigkeit, mit der sich (neue) Tatphänomene entwickeln, überfordert die bestehenden Ermittlungsstrukturen zunehmend. Auslandstaten, oft begangen über weltweit verstreute Server und anonyme Plattformen, haben eine sehr geringe Aufklärungsquote. Der digitale Raum hebt nationale Grenzen auf – und damit auch bewährte regionale Bekämpfungsstrategien.

Hinzu kommt eine dramatische Steigerung der Eingangszahlen durch Meldeverpflichtungen und Kooperationen, wie die Hinweise des National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC), die Meldungen an die Zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet oder die Vorschriften des Digital Services Act. Diese Eingänge konfrontieren die Behörden täglich mit einer Flut an Verdachtshinweisen. Qualität und strafrechtliche Relevanz schwanken dabei erheblich. 

Regionale Bekämpfungsstrategien verlieren an Wirksamkeit, da sich Tatorte und Täter regelmäßig über Landes- und Staatsgrenzen hinweg verteilen. Diese unaufhaltsamen Entwicklungen fordern neue Konzepte, insbesondere eine gezielte Steuerung von Anforderungen an Ermittlungsumfang und -tiefe, ansonsten drohen Strafverfolgungsbehörden im Strom der digitalen Massendelikte und -daten unterzugehen.

Besonders die Meldeverpflichtungen erzeugen eine Schwemme an Hinweisen, die zentral beim Bundeskriminalamt (BKA) mit unterschiedlichster Qualität eingehen. Viele Hinweise betreffen Sachverhalte, die erkennbar nicht strafbar sind. Andere wiederum betreffen zwar strafbare Handlungen, sind jedoch von so geringer Relevanz, dass eine Strafverfolgung im Ergebnis nicht aufgenommen oder zeitnah eingestellt wird. Daraus ergibt sich eine Kernfrage für die Sicherheitsbehörden: Wie können wir unsere Bearbeitungskapazitäten von Anfang an auf die wichtigen Sachverhalte ausrichten und einer systemischen Überlastung des Strafverfolgungsapparates entgegenwirken?

Eine erste Antwort hierauf ist die Einrichtung der „Digitalen Eingangsstelle“ im BKA. Diese zentrale Instanz verfolgt das Ziel, insbesondere die aufgrund von Meldepflichten eingehenden Hinweise frühzeitig, einheitlich und standardisiert zu bewerten und die örtliche Zuständigkeit für die weitere Bearbeitung festzustellen. Durch klar definierte Prozesse werden nicht strafverfolgungsfähige oder – im Auftrag der Justiz – nicht strafverfolgungswürdige Sachverhalte direkt am Eingang herausgefiltert. Eine strukturierte Bearbeitung wird unter anderem durch die Bildung von Fallgruppen ermöglicht, die eine priorisierte Weiterleitung relevanter Hinweise an die zuständigen Dienststellen gewährleistet. Die frühzeitige Trennung wichtiger von weniger relevanten Fällen beschleunigt nicht nur die Bearbeitung, sondern schont auch wertvolle Ermittlungsressourcen.

Die effektive Bildung von Fallgruppen setzt justiziell und polizeilich abgestimmte Festlegungen in der gesamten Bearbeitungskette voraus. Polizei und Staatsanwaltschaft müssen ihr gemeinsames Verständnis fortentwickeln, welche Fallkonstellationen eine hohe Priorität genießen und welche Verfahren frühestmöglich im Gesamtprozess effizient abgeschlossen werden können. Dieser zentrale Ansatz auf Bundesebene führt insgesamt nur zu den notwendigen Entlastungen, wenn er im weiteren Prozess durch abgestimmte Standards in Bezug auf Ermittlungsumfang und -tiefe auf Landesebene fortgesetzt wird. 

Digitale Kriminalität kennt keine regionalen Grenzen. Daher reicht es nicht aus, wenn nur einzelne Bundesländer oder Dienststellen eigene Standards entwickeln. Es bedarf bundeseinheitlicher und verlässlicher Absprachen, um den Herausforderungen nachhaltig zu begegnen und so schlanke, nachvollziehbare und bundesweit effektive Prozesse zu etablieren, um tatortunabhängige Kriminalität einheitlich zu bekämpfen. Es braucht ein gemeinsames Vorgehen der Polizei mit der Justiz. Die Definition von Relevanzkriterien, die Festlegung von Prioritäten und die Frage, wann ein Verfahren effizient abgeschlossen werden kann, sind genuin justizielle Aufgaben. Ohne die Mitwirkung der Justiz bleibt jede polizeiliche Standardisierung Stückwerk. Sie erfordert deshalb bundeseinheitliche Vereinbarungen, nicht nur für die Polizei, sondern auch für die staatsanwaltschaftliche Befassung. Nur wenn Polizei und Justiz gemeinsam einheitliche Standards entwickeln und anwenden, können Personalressourcen sinnvoll gebündelt und effizient eingesetzt werden. Diese Standards müssen nicht theoretisch, sondern praktisch wirken – sie müssen bei den Staatsanwaltschaften und Gerichten vor Ort verankert und gelebt werden.

Die Masse digitaler Delikte zwingt Polizei und Justiz dazu, Priorisierungen bewusst vorzunehmen. Nur durch eine gezielte Steuerung der Ressourcen können Rückstände abgebaut, Verfahren beschleunigt und die Effizienz der Strafverfolgung gesichert werden. Die Polizei kann diese Flut nicht allein bewältigen. Eine kluge und abgestimmte Priorisierung ist unerlässlich, um Ressourcen gezielt einzusetzen und Haldenbildung zu verhindern. Wenn wir die Priorisierung dem Zufall überlassen, dann erfolgt sie nicht strategisch, sondern durch Überforderung: durch Ressourcenengpässe, durch Liegezeiten, durch Verfahrensabbruch aus Zeitmangel. Eine solche Entwicklung gefährdet das Vertrauen in die Strafverfolgung und die Glaubwürdigkeit des Rechtsstaats.

Justiz in besonderer Verantwortung

Hier ist die Justiz in besonderer Verantwortung. Sie muss sich aktiv an der Entwicklung und Umsetzung solcher Priorisierungsmechanismen beteiligen, mit der Polizei bundesweite Standards verabreden und deren flächendeckende Anwendung ermöglichen. Effizienzsteigerung in der Strafverfolgung ist kein Widerspruch zum Legalitätsprinzip – sie ist dessen notwendige Ausgestaltung unter den Bedingungen der dynamischen digitalen Welt. Polizei und Justiz müssen im digitalen Raum enger zusammenrücken, um der anhaltenden und sich weiter aufbauenden (digitalen) Straftatenwelle adäquat begegnen zu können. Schritte zur Effizienzsteigerung sind möglich und notwendig – sie setzen jedoch ein gemeinsames Verständnis und ein koordiniertes Handeln voraus. Das Legalitätsprinzip verpflichtet uns nicht nur zur Aufnahme jedes Strafverfahrens, sondern auch zur klugen Lenkung unserer Ressourcen. Der Anspruch auf effiziente Strafverfolgung verlangt, dass wir bewusst und zielgerichtet entscheiden, welche Sachverhalte vorrangig und mit welcher Intensität verfolgt werden. Die entscheidende Frage lautet: Wollen wir die Kriminalitätsbekämpfung steuern oder lassen wir uns weiter von der Kriminalität in die systemische Überlastung treiben?

Holger Münch

ist seit 2014 Präsident des Bundeskriminalamtes.

Ingo Wünsch

ist seit 2020 Direktor des Landeskriminalamtes NRW.