Frankreichs Ex-Präsident Nicolas Sarkozy hat am 21. Oktober eine fünfjährige Haftstrafe ohne Bewährung angetreten. Die spektakuläre Verurteilung des einst höchsten und mächtigsten Franzosen sorgt für eine heftige Debatte. Wie politisch darf – oder soll – die Justiz sein? Oder geraten die Richter in der Sarkozy-Affäre vielmehr unter trumpistischen Druck?
Ein ehemaliger Staatschef im Gefängnis: Noch jetzt, da Nicolas Sarkozy wirklich seine Zelle bezogen hat, bekundet Frankreich Mühe mit der Vorstellung. Da sitzt einer dieser illustren Wahlmonarchen, Teil der französischen Ahnengalerie der Fünften Republik von Charles de Gaulle über François Mitterrand bis Emmanuel Macron, hinter den Gittern der berühmt-berüchtigten Pariser Haftanstalt La Santé, dort, wo bis 1972 noch die Guillotine zum Einsatz gekommen war. Für gaullistische Nerven ist das ein wenig zu viel. Schon die Urteilsverlesung am 25. September glich für die Sarko-Fans einer Fahrt auf der Achterbahn.
Gerichtspräsidentin Nathalie Gavarino erinnerte in dem hohen gläsernen Gerichtsbau im Pariser Norden zuerst an den Vorwurf, Sarkozy und der damalige libysche Machthaber Muammar Gaddafi hätten einen „Korruptionspakt“ geschlossen: für den agilen Franzosen nordafrikanische Ölgelder zwecks Finanzierung seiner Präsidentschaftswahlkampagne 2007, für den exzentrischen und 2011 getöteten Libyer die Rehabilitierung auf dem diplomatischen Parkett mittels eines Staatsbesuches in Paris.
Wahrlich ein monströser Verdacht. Nur: Wo sind die Beweise? Richterin Gavarino räumte ein, das Dokument, mit dem das Pariser Online-Magazin Mediapart die Affäre ins Rollen gebracht hatte, sei „wahrscheinlich eine Fälschung“. Die zwei wichtigsten Tatbestände – illegale Wahlkampffinanzierung und passive Bestechung – waren damit vom Tisch. Die Sarkozy-Anwälte und seine Anhänger vor den Livesendern witterten schon einen Freispruch.
Dann folgte die eiskalte Dusche: Sarkozy habe eine „kriminelle Vereinigung“ (association de malfaiteurs) gebildet, befand Gavarino und verlas ein gesalzenes Strafmaß: fünf Jahre Haft für den Hauptangeklagten, weil er „Vorbereitungen für diesen Teufelspakt zugelassen“ habe. Seine ausführenden Adlaten Claude Guéant und Brice Hortefeux, beide nachmalige Innenminister unter Präsident Sarkozy, wurden ähnlich hart bestraft.
Sarkozy verließ den Gerichtssaal wie verstört und deklamierte mit verhaltener Wut, während seine Gattin Carla Bruni das Mikrofon von Mediapart wegschubste, in die Kameras: „Was in diesem Saal passiert ist, ist äußerst gravierend für den Rechtsstaat und das Vertrauen in eine unabhängige Justiz. Ich bin unschuldig. Diese Ungerechtigkeit ist ein Skandal.“
In den sozialen Medien und den abendlichen Talkshows legten Sarkozys Anwälte nach: Erstens gebe es keine Beweise für eine Bandenbildung, es sei denn, man erachte die Kooperation zwischen einem Staatschef und seinen Ministern als mafiös.Zweitens werde der Tatbestand der „kriminellen Vereinigung“ wieder einmal als letzter Ausweg vor einem Freispruch missbraucht – etwa, wenn gegen Islamisten oder Drogendealer keine handfesten Beweise vorlägen. Und drittens werde der Grundsatz in dubio pro reo mit Füßen getreten wie die ganze Unschuldsvermutung: Das von Sarkozys Richtern eingesetzte Instrument der „vorläufigen Vollstreckung“ (exécution provisoire) bringe den Angeklagten in Haft, noch bevor ein möglicher Berufungsprozess durch sei.
Morddrohungen gegen Sarkozy-Richterin
Bei diesen juristischen Argumenten blieb es nicht. Richterin Gavarino wurde in den sozialen Medien persönlich attackiert und als parteiisch gescholten. Hatte die Richterin 2011 nicht an einer Kundgebung des – politisch unabhängigen – Richterverbandes Union Syndicale des Magistrats (USM) gegen einen Justizerlass von Präsident Sarkozy teilgenommen? Für die Sarkozysten ist klar: Gavarino gehört zu den „roten Richtern“ (les juges rouges), genau wie die 2013 geschaffene Finanzstaatsanwaltschaft (Parquet National Financier, kurz PNF), die in Sarkozys Libyen-Connection ermittelt hatte. Auch Morddrohungen erhielt Gavarino. Das ging nun vielen Franzosen zu weit. So nachvollziehbar die juristischen Einwände auch sein mögen: In einer Umfrage störten sich 72 Prozent der Befragten an den Attacken auf die Richterin. Sie hat Klage gegen Unbekannt eingereicht.
Sarkozys Opferhaltung überzeugt die Franzosen auch nicht: Seit vierzig Jahren gilt er als „bête politique“ (Vollblutpolitiker), dessen Affären nicht mehr zu zählen sind. Seit 2023 hat er schon drei sogenannte unbedingte Verurteilungen auf dem Zähler, die ihm eine Fußfessel einbrockten. Zwei Ermittlungen laufen noch (russische Versicherung Reso-Garantia, Fußball-WM-Vergabe in Katar 2022). Aber auch die Sarkozy-Gegner wagen sich weit aus dem Fenster, Mediapart etwa mit dem Vorwurf, die vehemente Kritik an dem Urteil und dem Gericht komme einer „trumpistischen“ Medienkampagne gleich. „Die Schmähreden des Nicolas Sarkozy gegen die Justiz greifen unsere Demokratie an“, kommentiert das linke Magazin. „Die neofaschistische Gegenrevolution, die überall im Gang ist, macht die Richter zu einer erstrangigen Zielscheibe.“ Als Beweis sieht Mediapart den Medienmogul Vincent Bolloré. Der erzkonservative bretonische Industrielle hält große Stücke auf Sarkozy. Trumpisten sind sie aber beide nicht oder höchstens im Kleinformat. Frankreich, Wiege des europäischen Zivilrechts, wahrt zudem noch mehr Respekt vor der Justiz als die aktuelle US-Administration.
Die Nation der großen Revolution von 1789 pflegt vielmehr eine „soziale“ Justiz, in der Gerechtigkeit vor Recht kommt. Das betont linke Syndicat de la Magistrature (SM), das bei den Berufswahlen meist ein Drittel der Stimmen der 9000 französischen Richter erhält (zwei Drittel entfallen auf die apolitische USM), steht dazu, dass das Recht eine politische Frage sei; Justitia dürfe dafür nicht blind sein. Von dem SM-Magistraten Oswald Baudot stammt die legendäre Aufforderung an die Richterzunft: „Seien wir voreingenommen für den Schuldner gegen den Gläubiger, für den Arbeiter gegen den Boss, für den Kranken gegen die Sozialversicherung, für den Dieb gegen die Polizei.“
Im Rechtsalltag spiegelt sich diese Haltung zum Beispiel vor den „Prud’hommes“ wider, den niederen Arbeitsgerichten. Oder im Umstand, dass Hauseigentümer vor französischen Gerichten wenig Chancen gegen illegale Hausbesetzer haben. Trotzdem liegt Sarkozy mit seinen Klagen über die „roten Richter“ nicht immer richtig. In der Affäre rund um die Bargeldumschläge der Milliardärin und L’Oréal-Erbin Liliane Bettencourt fielen die Sarkozy-Anwälte über den Richter Jean-Michel Gentil her, weil er sich zuvor schon kritisch über die politische Reizfigur Sarkozy geäußert hatte. Das hinderte ihn nicht, den angeklagten Ex-Präsidenten in der Bettencourt-Affäre 2013 freizusprechen. Und auch Sarkozys bisher schwerste Verurteilung in der Libyen-Affäre gilt nicht überall als diskutabel: 58 Prozent der Franzosen sehen darin laut Umfrage einen „unparteiischen Entscheid“.