Die Erwartungen an die neue Europäische Kommission sind hoch. Vor allem in der Rechtspolitik will sie neue Fortschritte erzielen. Michael McGrath, der neue Kommissar für Demokratie, Justiz und Rechtsstaatlichkeit, steht dabei im Mittelpunkt.
Der Brief klang deutlich und fordernd: „Lieber Michael“, schrieb EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im November an ihren neuen Kommissar, „wir müssen liefern und besser werden.“ Der Adressat: Michael McGrath, 48 Jahre alt, Ire, Vertreter der liberal-konservativen Partei Fianna Fáil, zuletzt Finanzminister seines Landes und in seinem Vorleben unter anderem Wirtschaftsprüfer bei KPMG. Seine neue Amtsbezeichnung: EU-Kommissar für Demokratie, Justiz und Rechtsstaatlichkeit. Das Schreiben, das jedes Mitglied der neu gebildeten Kommission vor dem Amtsantritt erhalten hat, stieß vor allem in der Bundesrepublik auf Zuspruch. Schließlich hatten zahllose Verbände wie vor allem der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) schon im Vorfeld gemahnt, man müsse den Binnenmarkt endlich ausbauen und vollenden. Dazu gehöre, so hieß es in dem Dokument weiter, Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit im Binnenmarkt als zentrale Standortfaktoren für grenzüberschreitende Investitionen zu garantieren.
Tatsächlich sieht das Portfolio des Iren, der von seiner Ernennung ausgerechnet für den Justizbereich – zurückhaltend gesagt – überrascht worden war, umfassende Reparaturarbeiten nicht nur am Binnenmarkt, sondern auch an den Rahmenbedingungen für die Wirtschaft vor. Das beginnt bei den Bürokratiehürden für die Unternehmen, die um 25 Prozent, für kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) sogar um 35 Prozent, reduziert werden sollen – von der Leyen fordert einen spürbaren Einstieg, der innerhalb der ersten 100 Tage beginnen soll. Ein Beitrag dazu soll ein neues EU-Rechtsstatut sein, bei dem die Rechtsstaatlichkeit zum Bestandteil des Binnenmarktes wird. Noch ist zwar unklar, wie diese sogenannte Binnenmarktdimension konkret aussehen soll, aber es gibt erste Andeutungen, was darunter zu verstehen sein könnte. Zum einen soll McGrath, der für die künftigen Jahresberichte der EU zur Rechtsstaatlichkeit verantwortlich sein wird, ein strikteres Vorgehen der Union in Fällen von Verstößen gegen die EU-Werte-Charta durchsetzen. Er wurde dazu mit Nachdruck von der Kommissionspräsidentin aufgefordert, „Polen beim Wiederaufbau der Demokratie zu unterstützen, Ungarn zu lehren, die Werte der EU wieder zu respektieren, und den Mitgliedstaaten zu zeigen, wie wichtig die Rechtsstaatlichkeit wirklich ist“. Von der Leyen drängt darüber hinaus auf eine Neufassung des sogenannten Artikel-7-Mechanismus (Entzug des Stimmrechtes für ein abtrünniges Mitgliedsland in allen EU-Gremien sowie Einbehalt von Fördergeldern). Dieses Instrument wäre zwar nicht neu, es erwies sich jedoch in den vergangenen Jahren als zahnlos. Dem neuen Kommissar wird nachgesagt, sehr klug zu sein und keine Spielchen zu spielen – genau die Eigenschaften, die ein Mann in der Position braucht, um etwas zu bewegen.
Auf dem Schreibtisch des frischgebackenen EU-Kommissars liegt noch ein weiteres Papier, auf das vor allem Firmengründer hoffen. Es geht darin um mehr rechtliche Sicherheit für grenzüberschreitend tätige Start-ups – nicht in Form unverbindlicher Vorschriften, sondern als Rechtsstatut. Das neue Instrument trägt den Titel „28. Regime“. Die Begrifflichkeit leitet sich aus dem Gedanken ab, dass neben die Rechts- und Finanz-Ordnungen der 27 Mitgliedstaaten nunmehr ein 28. Katalog einfacherer und harmonisierter Regeln im Wirtschafts-, Insolvenz- und Gesellschaftsrecht tritt, der vor allem kleineren Betrieben zugutekommen würde. Damit soll in mehreren EU-Staaten tätigen Start-ups geholfen werden, sich bei Ausweitung ihrer Tätigkeit in der ganzen Union nicht von den vielen und sich teilweise widersprechenden Vorschriften ausbremsen zu lassen. Deutschland sieht solche Pläne zurückhaltend, weil man unterschiedliche Rechtssysteme für Start-ups und bereits länger tätige Betriebe fürchtet.
Darüber hinaus will die EU alle Unternehmen künftig besser stützen und schützen. So sollen die Betriebe in der Gemeinschaft vor sogenannten Killer-Akquisitionen bewahrt werden – also Übernahmen durch Konzerne aus anderen Staaten außerhalb der Union. Zusätzlich sollen neue Regelungen in Kraft gesetzt werden, um durch eine Reform der Richtlinie 2014/24/EU die öffentliche Auftragsvergabe zu reformieren. Das Ziel besteht darin, die „Versorgungssicherheit für bestimmte sensible Dienstleistungen, Produkte und Technologien zu gewährleisten“. McGrath wird also für eine Art Schutzschild der europäischen Demokratie zuständig sein, um ausländische Einflussnahme – beispielsweise durch marktbeherrschende Positionen bei Wirkstoffen für Medikamente – zu bekämpfen und eine Plattform zur Unterstützung der Zivilgesellschaft aufzubauen. Schon 2025 soll der Ire deshalb europäische Jungunternehmer und junge Menschen zu einer ersten Konferenz einladen, auf der entsprechende Maßnahmen erarbeitet werden sollen.
Im juristischen Bereich wird McGrath den europäischen Haftbefehl stärken und die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) überarbeiten. Diese soll McGrath unter anderem für Cloud-Betreiber ausweiten. Die Zusammenarbeit von Europol und Eurojust mit den entsprechenden Behörden der Mitgliedstaaten wird er verbessern müssen, die Schlagkraft des Europäischen Staatsanwalts möchte die neue Kommission vergrößern. Die Gesetzgebung für den Online-Bereich wird mit Blick auf den Verbraucherschutz ausgebaut. Von der Leyen drängt auf einen aktualisierten politischen Rahmen zum Verbraucherschutz und will dafür eine Agenda 2025 bis 2030 vorlegen. Zu den Schwerpunkten gehört der Schutz „vulnerabler“ Verbraucher – ein Bestandteil des künftigen Digital Fairness Act. Ein Beispiel, was damit gemeint ist, wird in Brüssel immer wieder zitiert: Der manchmal sprunghafte Anstieg der Ticketpreise, der für Fans zu immer höheren Kosten als ursprünglich angekündigt führt, hat Bedenken hinsichtlich der Transparenz und der Fairness der Ticketing-Branche wachsen lassen.
„Wir werden auf die legitimen Sorgen und Erwartungen reagieren, die die Europäer bei den letzten Wahlen zum Ausdruck gebracht haben“, schrieb die Kommissionspräsidentin ihrem neuen Justizkommissar noch auf die Agenda – und verband dies mit einem besonders heiklen Auftrag. Denn seit Jahren wächst die Kritik an undemokratischen Tendenzen in den parlamentarischen Gremien der Union. Dazu zählen auch die begrenzten Rechte des Europäischen Parlamentes, das nach Artikel 225 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) die Kommission zwar per Mehrheitsbeschluss auffordern kann, auf bestimmte Themen mit einem europäischen Gesetz zu reagieren. Die Volksvertreter bleiben aber machtlos, wenn das oberste Gremium ablehnt. Bisher. Denn der irische Kommissar soll konkrete Vorschläge ausarbeiten, wie dem Abgeordnetenhaus der EU ein Recht gegeben werden kann, das jedes andere nationale Parlament längst hat: das Vorschlagsrecht. McGrath hat also viel zu tun. Die Erwartungen an ihn könnten nicht größer sein.