Die Zahl der Entschädigungsklagen gegen Fluglinien wegen verspäteter oder stornierter Flugreisen klettert von Rekord zu Rekord. Die zuständigen Amtsgerichte kommen mit der Erledigung der Fälle kaum noch hinterher – nun sollen KI-Assistenzprogramme den Gerichten durch die Klageflut helfen.
Nach dem bisherigen Rekordjahr 2023, als die Fallzahlen der Amtsgerichte an den 20 größten Flughafenstandorten auf 125.000 hochgeschnellt waren, haben die Klageeingänge weiter zugelegt: Rund 131.000 neue Verfahren melden die zuständigen Amtsgerichte für das Jahr 2024, nie gab es mehr zu tun als in den vergangenen zwölf Monaten. Seit 2022 haben sich die Verfahrenszahlen damit fast verdoppelt, wie aus einer aktuellen Umfrage der Deutschen Richterzeitung bei den „Flughafen-Gerichten“ hervorgeht. Die meisten Fälle haben 2024 die Amtsgerichte Köln, Frankfurt am Main und Königs Wusterhausen bei Berlin erreicht. Allein in Köln sind 41.288 Klagen Reisender aufgelaufen, was rund drei Vierteln aller dortigen Eingänge in Zivilsachen entspricht. Im Vergleich zu 2023 sind die Fluggastverfahren in Köln 2024 um weitere 11 Prozent gestiegen, nachdem sie sich im Vorjahr bereits verdoppelt hatten.
Neun von zehn Fällen betreffen Fluggastklagen
Das zweitplatzierte Amtsgericht Frankfurt am Main meldet rund 16.000 Eingänge, womit der hohe Wert des Vorjahres auch hier übertroffen wird. Knapp hinter den Frankfurtern folgt das für den Flughafen Berlin Brandenburg zuständige Amtsgericht Königs Wusterhausen, das 2024 rund 15.500 Entschädigungsklagen verzeichnet hat. Das entspricht einem erneuten Zuwachs der Verfahren gegen Airlines oder Reiseveranstalter um etwa 11 Prozent, nachdem sich die Fallzahl der Brandenburger 2023 ebenfalls bereits verdoppelt hatte. Mehr als 90 Prozent aller Zivilfälle in Königs Wusterhausen sind inzwischen Fluggast- und Reisesachen. Die viertmeisten Klagen haben 2024 das für Reisen über den Flughafen München zuständige Amtsgericht Erding erreicht, bei dem 13.335 Fälle eingegangen sind. Drei von vier Zivilsachen sind in Erding Fluggastklagen oder sonstige Reisefälle. Hinter Erding liegt das Amtsgericht Düsseldorf bei der Zahl der Fluggastklagen auf Platz fünf. Die Düsseldorfer melden für 2024 rund 11.000 Klageeingänge und haben damit als einziges Gericht unter den ersten fünf einen leichten Rückgang gesehen (2023: 11.728).
Mit den Amtsgerichten Hamburg (9310), Hannover (4340), Nürtingen bei Stuttgart (3881), Nürnberg (3655), Memmingen (2161), Dortmund (2129), Bühl mit Zuständigkeit für den Flughafen Karlsruhe/Baden-Baden (1584), Simmern mit Zuständigkeit für den Airport Frankfurt-Hahn (1541), Bremen (1335) und Steinfurt mit Zuständigkeit für den Flughafen Münster/Osnabrück (1191) geben zehn Gerichte für das Jahr 2024 vierstellige Neuzugänge an. Hier sind die Klagezahlen überwiegend auf dem hohen Niveau des Rekordjahrs 2023 stagniert.
Fließbandklagen der Legal-Tech-Anbieter
Passagiere greifen inzwischen immer öfter auf Portale wie Flightright zurück, um ihre Entschädigungsansprüche möglichst schnell und einfach durchzusetzen. Die Justiz hat darauf reagiert und spezielle KI-Assistenzprogramme entwickelt. Bislang gibt es aber noch keine Standardsoftware, die den Gerichten flächendeckend durch die Fließbandklagen der Legal-Tech-Anbieter hilft. Hessen plant, den am Amtsgericht Frankfurt erfolgreich getesteten Urteilskonfigurator „FRAUKE“ weiter auszurollen und das Programm auch bundesweit verfügbar zu machen. Brandenburg geht derweil seinen eigenen Weg und hat inzwischen eine sechsstellige Summe für einen KI-Assistenten mit dem Namen „KAI“ investiert. Auch Bayern testet am Amtsgericht Erding bereits den Einsatz Künstlicher Intelligenz.
Die Anwendungen sollen Verfahren spürbar beschleunigen. Bislang müssen Passagiere im Schnitt einige Monate auf ihre Entschädigung warten. „FRAUKE“, „KAI“ und Co. können in Sekundenschnelle viele Tausend Urteile vergleichen, juristische Argumente aus Schriftsätzen extrahieren oder Entscheidungsvorschläge auswerfen. Noch im ersten Halbjahr 2025 könnte das neue Brandenburger Assistenz-System in Königs Wusterhausen den Regelbetrieb aufnehmen – und unnötige Doppelarbeit vermeiden. Bislang arbeiten viele Gerichte noch mit Excel-Tabellen, um den Überblick über die Flut der Verfahrenseingänge zu behalten. Weil verschiedene Richter zuständig sind, gehören Rücksprachen und längere Recherchen nach vergleichbaren Fallkonstellationen noch zum Alltag.
Einsatz von KI-Assistenz soll helfen
Die von der Justizministerkonferenz eingesetzte Reformkommission zur Zukunft des Zivilprozesses hat inzwischen einen Bericht vorgelegt, der unter anderem die Möglichkeiten und Grenzen eines Einsatzes von Künstlicher Intelligenz in der Justiz bewertet. Die Kommission empfiehlt einen Einsatz digitaler Werkzeuge im Zivilprozess. Sie seien für ein zugängliches, effizientes und transparentes Gerichtsverfahren notwendig. Auch der Rückgriff auf Künstliche Intelligenz sei möglich, sofern die Anwendungsbereiche klar umgrenzt sind. Soweit Aufgaben nach Artikel 92 des Grundgesetzes den Richtern vorbehalten sind, dürften diese weder anderen Entscheidern wie Rechtspflegern noch einem automatisierten System übertragen werden. Außerhalb des Kernbereichs der richterlichen Arbeit sei der Einsatz digitaler Werkzeuge zur Unterstützung und insbesondere zur Vorbereitung eines Urteils sowie im Anschluss daran aber möglich. Das Grundgesetz und die KI-Verordnung der EU ließen das zu. Auch entscheidungsvorbereitende KI-Assistenzprogramme sind grundsätzlich zulässig, sofern sie bestimmte Mindestanforderungen erfüllen. So muss die eingesetzte Software im Hinblick auf die eingeflossenen rechtlichen Auffassungen transparent arbeiten, die Quellen müssen nachprüfbar bleiben und die Anwender müssen abweichende Rechtsauffassungen einsteuern können.
Das Verfassungs- und Europarecht steht einer forcierten Digitalisierung der Justiz also keinesfalls im Weg. Es braucht aber mehr Nachdruck und mehr Tempo in der Politik, um den digitalen Wandel in der Rechtspflege zu beschleunigen. Die Justiz setzt darauf, dass Bund und Länder die 2023 gestartete Digitalinitiative für die Justiz nach der Bundestagswahl deutlich ausbauen. Für einen echten Digitalisierungsschub reicht das bisherige Budget hinten und vorne nicht. Größer und schneller muss der Anspruch der neuen Bundesregierung sein, will sie bei der Digitalisierung der Justiz auf die Überholspur wechseln.